SERIE 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (12) Juden wurden über Jahrhunderte verfolgt

Kempen · Zu der reichen Geschichte der Stadt Kempen gehört auch die älteste Überlieferung einer jüdischen Gemeinde in unserer Region. Durch ihre Historie zieht sich wie ein roter Faden die Ablehnung und Verfolgung durch die christliche Bevölkerungsmehrheit.

     Von den zwölf hier abgebildeten Kindern aus dem Jahr 1910 sind als Erwachsene mindestens fünf durch die Nationalsozialisten ermordet worden.

Von den zwölf hier abgebildeten Kindern aus dem Jahr 1910 sind als Erwachsene mindestens fünf durch die Nationalsozialisten ermordet worden.

Foto: Artur Winter

Kempen, im Juni 1288. Schweigend umsteht ein Zuschauerkreis einen Scheiterhaufen. Durch die lodernden Flammen zeichnen sich dunkel die Konturen eines Menschen ab. An einen Pfahl gebunden, versucht der Mann reflexartig der mörderischen Hitze auszuweichen, zuckt, soweit die Stricke es zulassen, auf und nieder. Kurze Zeit später bewegt er sich nicht mehr. – So oder so ähnlich muss man sich die Szenerie vorstellen, als vor 731 Jahren in Kempen die erste überlieferte Verfolgung der jüdischen Minderheit stattfand.

Es ist wahr: Die erste Nachricht von jüdischem Leben in Kempen spricht von Tod. Bereits im Mittelalter hat es hier eine große jüdische Gemeinde gegeben, die auch über ein Gebetshaus verfügt haben muss. Aber ihr wurde übel mitgespielt. Im Sommer 1288 wurden zwölf erwachsene Juden und mehrere Kinder ermordet. Überliefert sind die Kempener Ereignisse in einem Jahrhunderte alten, in Nürnberg zusammengestellten Totengedenkbuch. Hier wird auch der Name des Mannes genannt, der damals in Kempen den Märtyrertod im Feuer erlitt: Verbrannt wurde der fromme Jude David, weil er sich weigerte, seinem Glauben abzuschwören.

Wahrscheinlich fanden die als Hinrichtung deklarierten Ermordungen vor dem Fronhof des erzbischöflichen Schultheißen statt, also vor der heutigen Burg. Hintergrund war eine Verfolgungswelle, die damals den ganzen Niederrhein in Aufruhr versetzte. Man sagte den Juden nach, sie ermordeten christliche Kinder, um mit ihrem Blut ungesäuertes Brot zuzubereiten, und erpresste auf der Folter entsprechende „Geständnisse“. Wenige Jahre nach der Hinrichtung – aus heutiger Sicht eine Mordaktion – erhielt das aufstrebende Kempen die Stadtrechte.

Warum wurden die Juden angefeindet? Sie galten als „Mörder Gottes“. Das ist historisch falsch: Es waren nicht Juden, sondern die römische Besatzungsmacht, die Christus ans Kreuz schlug. Dazu kamen wirtschaftliche Gründe und Neid. Seit 1215 waren die Juden, da sie Nicht-Christen waren, von Handwerk und Ackerbau ausgeschlossen. Andererseits bestand bis 1435 für die Christen ein Zinsverbot. So wurde den Juden das Kreditgeschäft, um leben zu können, zur Nische. Wenn zum Beispiel ein Reisender aus Tönisberg, das damals zum Herzogtum Geldern gehörte, ins kurkölnische Kempen kam, konnte er in der Judenstraße bei einem jüdischen Geldwechsler gegen eine Gebühr seine geldrischen Taler in kölnische Silbermünzen tauschen und damit in Kempen einkaufen.

Einer der wenigen Berufe, der den Juden offen stand, war der des Arztes, war er doch oft mit Blut und Schmutz verbunden. Andererseits ist zu helfen und Leid zu mindern ein Gebot im Judentum. Als Armenarzt, der weitgehend auf Honorare verzichtete, arbeitete beispielsweise von 1908 bis 1913 ein Dr. David Rath, Burgstraße 8. – Ein weiterer Grund, den Juden misstrauisch oder neidisch zu begegnen: Im Gegensatz zu den meisten Christen konnten sie fast alle lesen und schreiben. Wo aber lag der Gebetsraum der Kempener Juden, in dem sie auch ihre traditionellen Schriften studierten? Im Jiddischen wird „Synagoge“ mit dem deutschen Wort „Schul“ bezeichnet. Die Kempener Stadtarchivare Gottfried Klinkenberg und Jakob Hermes haben daher den Namen der Kempener „Schulstraße“ von einer jüdischen Kultstätte abgeleitet, da an dieser Straße niemals eine wirkliche Schule gelegen habe. Eine Theorie, die einiges für sich hat. Bewiesen ist sie nicht.

1348/49 wütete die Pest im Rheinland. Da suchte man Sündenböcke – und fand sie in den verhassten Juden. Man warf ihnen vor, die Brunnen vergiftet zu haben. Diese und andere Verfolgungen führten dazu, dass die Juden im späten 14. Jahrhundert Kempen verließen. Nur ein Name blieb von ihnen zurück: die Judenstraße. Er erinnert daran, wo die Vertriebenen ihre Läden und Wechselstuben hatten. In den nächsten Jahrhunderten lässt die Stadt Kempen die Ansiedlung jüdischer Einwohner nicht zu.

Erst nachdem 1794 die Truppen der französischen Revolution den linken Niederrhein besetzt und „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ propagiert haben, dürfen die Juden nach Kempen zurück. Sie arbeiten als Hausierer, Metzger und Viehhändler. Für 1800 ist im Ellenstraßenviertel die erste bekannte jüdische Familie zu erschließen: ein Metzger mit Frau und Kindern. Durch die Tradition des rituellen Schächtens ist den Juden das Fleischerhandwerk vertraut. Metzger und Viehhändler werden bis zum Ende der jüdischen Gemeinde im „Dritten Reich“ deren Berufsstruktur bestimmen. Die Landwirtschaft ist geprägt von der Rindviehhaltung; mit Viehhandel und dem Schlachten von Vieh kann man sein Leben gut fristen.

1806 leben bereits 32 Juden im Ort, 1826 sind es schon 82. 1871 erreicht die jüdische Gemeinde in Kempen mit 128 Mitgliedern ihren größten Umfang. 1809 kauft sie von der Kommune Schmalbroich an der Landstraße von Kempen nach Oedt ein Stück Ödland zur Anlegung eines jüdischen Friedhofs. Er wird bis ins „Dritte Reich“ hinein als Begräbnisplatz dienen und noch einmal für zwei Gräber geöffnet werden: 2007 für Kurt Mendel, vier Jahre später für seine Frau Emmi. Der Hintergrund: 1941 trafen sich zwei junge Leute – Emmi Dahl aus Dormagen und Kurt Mendel aus Kempen – auf der Fahrt ins Ghetto Riga. Im überfüllten Reichsbahn-Waggon kamen sie ins Gespräch und beschlossen: „Wenn wir das hier überleben, bleiben wir zusammen!“ Sie haben überlebt, und sie sind zusammen geblieben – auch im Tod.

Erstmals 1844 ist für Kempen eine Synagoge der jüdischen Gemeinde bezeugt – aber wir wissen nicht, wo sie gelegen hat. Von 1848 auf 1849 haben die Kempener Juden dann ihre zweite Synagoge errichtet: einen schmucklosen, rechteckigen Ziegelbau ein wenig abseits von der Umstraße, wo diese einen Knick beschreibt. Das Gebäude lag am damaligen Stadtrand und war halb von einer Mauer verdeckt. Warum es so verborgen lag? Die jüdische Gemeinde wurde häufig angefeindet und suchte für ihr Gebetshaus einen unauffälligen Platz. Gleich daneben baute sie am Donkwall eine kleine, zweistöckige Schule mit Lehrerwohnung.

Die eigene Synagoge zeigt das zunehmende Gewicht der jüdischen Bevölkerungsgruppe seit dem Beginn ihrer Wiederansiedlung um 1800. Den sozialen Aufstieg verkörpert wie kein anderer der Kempener Kaufmann Isaak Kounen. 1810 als Sohn des Geldwechslers Salomon Kounen an der Ellenstraße geboren und 1886 gestorben, war er die bedeutendste jüdische Persönlichkeit im Kempen des 19. Jahrhunderts. Seine Beliebtheit speiste sich aus drei Quellen: Wirtschaftlicher Erfolg, denn bereits 1837 war er Inhaber einer Seidenmanufaktur, also ein Vorreiter der Industrialisierung in Kempen. Er zählte zu den höchst besteuerten Bürgern der Stadt. Politische Aktivität – er war Mitglied des Stadtrats, des jüdischen Gemeindevorstands und der Gladbacher Handelskammer. Soziales Engagement, denn er begründete zahlreiche Stiftungen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Bürger. Dabei machte er keinen Unterschied zwischen Juden und Christen. Isaak Kounen wird das Haus Buttermarkt 2 zugeschrieben, heute Kempener Bastelstudio. In ihm soll er auch gewohnt haben. Sein hohes Ansehen ließ viele Christen die alten Vorurteile gegenüber den Juden überwinden.

 Die Synagoge in Kempen wurde am 10. November 1938 in Brand gesetzt. 1961 wurde die Ruine abgerissen.

Die Synagoge in Kempen wurde am 10. November 1938 in Brand gesetzt. 1961 wurde die Ruine abgerissen.

Foto: Kreisarchiv Viersen

Trotzdem hörte der uralte Hass nicht auf. Nationale Wortführer wie der Turnvater Ludwig Jahn, nach dem die Nationalsozialisten im August 1934 eine Kempener Sportanlage benannten, haben im 19. Jahrhundert unverblümt antisemitische Positionen vertreten. Noch im frühen 20. Jahrhundert prägen rassistische Klischees die Sprache. „Jüd, Jüd, hep, hep, steck’ die Nas’ in de Wasserschep!“ schreien die Kempener Gassenkinder, Angehörige der Unterschicht, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ihren jüdischen Altersgenossen hinterher.

Dabei wetteifert der größte Teil der Juden mit den „christlichen“ Deutschen darin, seine Pflicht für das gemeinsame Vaterland zu tun. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, rufen die jüdischen Vereinigungen ihre Mitglieder dazu auf, sich freiwillig zum Militär zu melden. An die 100.000 Juden folgen der Aufforderung, 1500 erhalten das Eiserne Kreuz Erster Klasse, eine hoch angesehene Tapferkeitsauszeichnung. Einer, der den Orden bekommt, ist der Kempener Viehhändler Emil Winter, Neustraße 1, während des Krieges zum Feldwebel befördert. Seine Frau Selma organisiert für den Nationalen Frauendienst die Heimarbeit der Frauen des Kreises Kempen für Kriegszwecke, beispielsweise das Nähen von Sandsäcken zur Deckung der Soldaten im Schützengraben. Für die aufwändige Tätigkeit, die sie einige Male nach Berlin geführt hat, wird der Kempenerin Selma Winter schließlich durch die Kaiserin Auguste Viktoria das preußische Verdienstkreuz für Frauen verliehen. Selma Winter und ihre Tochter Grete üben daheim bereits den Hofknicks für den kaiserlichen Empfang, als die Mitteilung eingeht, dass dieser an einem Samstag stattfinden wird. Da verzichtet Selma Winter auf die Fahrt; denn als orthodoxe Jüdin unternimmt sie während des Sabbats keine Reisen.

Seit dem Ende des Kaiserreiches (1918) hat sich in Kempen der Umgang zwischen Juden und Christen in Kempen sichtlich entspannt. Das liegt daran, dass die Juden immer weniger in Erscheinung treten. Ihre Zahl hat sich in den letzten 60 Jahren dramatisch vermindert: von 128 im Jahre 1871 auf 65 im Jahre 1931. Der Hintergrund: 1873 hat eine Wirtschaftskrise eingesetzt, die die Preise für Rindfleisch drastisch drückt. Zudem werden jetzt große Fleischmengen in modernen Kühlschiffen aus Übersee eingeführt. Die Gewinnspanne in der traditionell jüdischen Branche Viehhandel bricht ein. Viele jüngere Juden verlassen Kempen, suchen ihr Glück in Großstädten. Die ältere Generation, die im Ort verbleibt, hält beharrlich an ihren traditionellen Berufen fest, dem Viehhandel und dem Betreiben von Läden.

Aus jüdischen Familien Kempens und deren Verwandtschaft sind vier international anerkannte Wissenschaftler hervorgegangen. Da ist der Zoologe Dr. Walter Hirsch, der in Berlin als Lehrer arbeitete und als Verfasser hervorragender Unterrichtswerke mit Albert Einstein korrespondierte; im August 1942 wurde er in Auschwitz ermordet. Da ist die Mathematikerin Dr. Grete Winter, die seit 1934 in Israel lebte. Die Biologin Dr. Ida Levisohn wurde als Frau und Jüdin doppelt diskriminiert und emigrierte bereits 1931 nach England, wo sie in Cambridge lehrte und von wo aus sie Kempener Juden zur Flucht verhalf. Da ist schließlich die Medizinerin Dr. Hilde Bruch, die in New York tätig war. Sie galt bis in die 1960er-Jahre weltweit als führende Expertin auf dem Gebiet jugendlicher Magersucht.

In den 1920er-Jahren werden die Menschen für Fremdartiges aufgeschlossener; vieles deutet auf eine Annäherung zwischen Juden und Christen. Der Kempener Anwalt und Notar Dr. Karl Winter ist bei vielen christlichen Familien wegen seines Humors und seiner Uneigennützigkeit beliebt. Mit den Deportationen 1941 und 1942 erlischt die Geschichte der Jahrhunderte alten jüdischen Gemeinde in Kempen.

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