Serie - 725 Jahre Stadtrechte für Kempen (11) Armut war im Mittelalter allgegenwärtig

Kempen · Im Mittelalter war Kempen der wohlhabendste Ort weit und breit. Aber an heutigen Maßstäben gemessen, war die Qualität des Lebens erbärmlich und von scharfen Gegensätzen geprägt zwischen Prachtentfaltung und Hunger, Arm und Reich. Frömmigkeit und Furcht vor der ewigen Verdammnis beherrschten das Bewusstsein der Menschen. Ein Rückblick auf eine fremde Welt.

 Den sechsstufigen Giebel der Ziegelfassade, dieses früher auf Grund seiner auffälligen Bauweise „Das Steinerne Haus am Markt“ genannte Haus Hüskens-Weinforth am heutigen Studentenacker, ziert ein aufgemauertes Kreuz. Es weist wohl an die ursprüngliche gottgefällige Funktion des Gebäudes hin. Es erinnert auch an den damaligen Bewohner, den Rektor des Hospitals zum Heiligen Geist.

Den sechsstufigen Giebel der Ziegelfassade, dieses früher auf Grund seiner auffälligen Bauweise „Das Steinerne Haus am Markt“ genannte Haus Hüskens-Weinforth am heutigen Studentenacker, ziert ein aufgemauertes Kreuz. Es weist wohl an die ursprüngliche gottgefällige Funktion des Gebäudes hin. Es erinnert auch an den damaligen Bewohner, den Rektor des Hospitals zum Heiligen Geist.

Foto: Norbert Prümen

So’n Mist! Überall, wo man hinsieht, liegen Misthaufen auf den Straßen, und kleine dürre Schweine wühlen drin herum. Mitten auf dem Fahrweg prügelt sich ein Trupp schmutziger Kinder um ein Stück Schwarzbrot, mit schmutzverklebten Haaren, in Kittel aus Sackleinen gehüllt. Eines, etwa fünf Jahre alt, steht daneben, schaut zu und kratzt sich dabei verdächtig; wahrscheinlich hat das Blag Läuse. – So oder so ähnlich mag der erste Eindruck gewesen sein, den der Besucher von Kempen empfing, wenn er die Stadt um 1400 betrat; zu jenem Zeitpunkt, als sie auf dem Zenit ihrer Geschichte stand.

Ja, die Straßen! Bürgersteige haben sie nicht, dafür in der Mitte eine breite Rinne. In die laufen das Abwasser aus den Häusern und das Regenwasser hinein. Wenn die Hausfrau morgens an ihr Tagewerk geht, öffnet sie zuerst ein Fenster und leert den Eimer aus, auf dem die vielköpfige Familie nachts ihre Notdurft verrichtet hat. Langsam fließt die stinkende Flüssigkeit in die Rinne in der Straßenmitte, von dort in den inneren Stadtgraben und von da in einen Graben zu den städtischen Peschwiesen, wo es versickert. Hier und da können die Fußgänger die Straßenrinne auf einer Holzplanke überqueren; die ist im Untergrund mit einer eisernen Krampe verankert, damit man sie nicht stehlen kann, denn Holz ist kostbar, vor allem im Winter. Die Fuhrwerke müssen sich links und rechts von der Rinne fortbewegen. Müssen immer wieder Hindernissen ausweichen, denn fast jedes Haus hat einen Stall im Hof oder nach vorne zur Straße hin. Darin hausen Kühe, Ziegen, Schweine, Gänse und Hühner, die liefern den Familien ihren Fleischbedarf. Zahlreiche Bauernhöfe gibt es in der Stadt, ihre Felder liegen vor den Toren. Jeden Morgen werden Hunderte Borsten- und Federviecher aus ihren Ställen und Verschlägen nach draußen gelassen, wo sie sich ihr Fressen im Mist und Abfall suchen. Weglaufen können sie nicht, die Stadttore sind ja geschlossen. Und überall wimmelt es von Ratten.

Und das größere Vieh? In der schönen Jahreszeit versammelt sich morgens eine Gruppe Hirten auf dem Markt, kündigt mit ihren Blashörnern an, dass jetzt die Viehtrift auf die Weide beginnt. Woraufhin die Einwohner ihre Kühe und Ziegen zum Sammelplatz bringen. Ist das muhende und meckernde Viehzeug beisammen, ziehen die Hirten mit ihm auf die Weide – ins „schmale Broich“, nach Schmalbroich, wie man die Gegend heute nennt. Die Straße, die nach Norden aus dem Ort hinausführt, heißt deshalb „Kuhstraße“.

Vieh hält so ziemlich jede Familie, die ein Haus besitzt. Freilich gibt’s Fleisch nur am Sonntag und an den anderen Feiertagen. In der Woche wird vor allem Schwarzbrot aus Hafer und Roggen gegessen, außerdem Getreidegrütze und Mehlsuppe. Auch Mus aus Erbsen, Rüben und Kohl oder Hirsebrei, dazu trinkt man dünnes Bier. Weißbrot, aus Weizen hergestellt, können sich nur die Wohlhabenden leisten. Ein Sechstel des Kalorienbedarfs decken Obst und Gemüse, das man im eigenen Garten anbaut. Denn überall, wo sich zwischen den Häusern ein Fleckchen Erde findet, ackert jemand für die eigene Küche. Also bereichern Äpfel, Kirschen und Pflaumen den Speisezettel, Himbeeren und Brombeeren. Dazu kommen selbst gebackene Brotfladen aus Getreideähren im Eigenanbau. An die Feldflächen mitten in der Stadt erinnern heute noch Straßennamen wie „Acker“ und „Studentenacker“.

Kempen ist in der Region die wohlhabendste Stadt. Trotzdem ist das Leben für viele Menschen hart. Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist so arm, dass sie auf Unterstützung anderer angewiesen ist.

In Armut fallen kann man im Mittelalter schnell. Man muss nur eine Krankheit bekommen, nur einen Unfall erleiden, so dass man nicht mehr arbeiten kann. Gegen Krankheiten und Unfallfolgen sind die Menschen hilflos; im Städtchen gibt’s noch keine ausgebildeten Ärzte und Apotheker. Eine Blinddarmentzündung ist ein Todesurteil. Jedes zehnte Kind stirbt an Pocken, bevor es das zehnte Lebensjahr erreicht hat. Vor allem Frauen sind arm dran. Eine Berufsausbildung haben sie nicht. Dann stehen sie ohne Versorgung da, wenn ihr Mann gestorben ist, und müssen sich irgendwie durchschlagen. Eine Rente gibt es ja nicht. Viele arme Leute finden Unterschlupf bei Mitbürgern, die sie in ihr Haus aufnehmen. Diese Hausarmen verbringen dann ihr Leben unter der Treppe, im Stall oder in einer nicht benötigten Kammer. Was vom Tisch der Familie übrig bleibt, davon ernähren sie sich. Andere, die sich selbst überlassen sind, schlafen auf einem Strohsack in einem Mauerbogen der Stadtmauer, um ein bisschen Schutz vor Regen und Wind zu finden. Oder sie kampieren auf dem Friedhof, der damals um die Pfarrkirche liegt. Von dort vertreibt sie wenigstens niemand. Tagsüber gehen sie betteln und sind froh, wenn sie für kalte Nächte ein bisschen Holz für ein Feuer ergattern.

Staatliche Fürsorge ist unbekannt. Ab und zu finden sich private Wohltäter. Wie der reiche Johann von ­Broichhausen. Im Juni 1390 hat er sein Haus am Markt in eine Unterkunft für arme und kranke Menschen umgewandelt. Dieses Armenhaus bietet bis zu zehn Einwohnern Platz, jeder hat ein eigenes Schlafzimmer, als Wohnung dient ein Gemeinschaftsraum. Auch durchziehende Pilger finden hier ein Obdach. Die Menschen dort leben quasi als Gäste einer Stiftung. Deshalb heißt ihre Unterkunft zunächst „Gasthaus“, und die Straße, an der sie liegt, heißt „Gasthausstraße“. Aus dieser Stiftung wird ein Krankenhaus hervorgehen, das noch heute besteht: das Hospital zum Heiligen Geist. Nach seinem Vorgänger, dem Gasthaus zum Heiligen Geist, ist heute die Heilig-Geist-Straße genannt. Vom alten Gasthaus selbst steht nur noch das Wohnhaus des Hospitalrektors, die heutige Gaststätte Weinforth. Ein Kreuz, eingelassen in ihren Giebel, weist noch auf die ursprüngliche gottgefällige Funktion des Gebäudes hin. Daneben steht noch die kleine Hospitalskirche, die Heilig-Geist-Kapelle, am Buttermarkt. Dort beteten die Armen für ihre Wohltäter. Denn wenn im Mittelalter jemand etwas für Arme und Kranke tat, dann weniger aus Menschenfreundlichkeit. Vielmehr dachte er an sein Seelenheil und an das seiner Familie. Die Gebete derer, für die er etwas getan hatte, sollten ihm die Vergeltung seiner Sünden im Fegefeuer abkürzen.

Krankheiten, materielle Unsicherheit und der allgegenwärtige Tod prägen den Alltag der Menschen. Der harten Wirklichkeit versuchen sie durch die Flucht in den Glauben an ein besseres Jenseits zu entkommen. Aber im Jenseits gibt es ja nicht nur das Paradies. Zunehmend sind die Menschen von Angst erfüllt vor den Qualen der Hölle. Das ist auch der hauptsächliche Grund, warum sich in Kempen verschiedene Bruderschaften gebildet haben: eine Nikolausbruderschaft, 1395 bezeugt; eine Liebfrauenbruderschaft (1429); eine Annenbruderschaft (1470) und eine Josephsbruderschaft (1490). Die Bruderschaften stehen an erster Stelle im sozialen Leben der Stadt. In der heutigen Zeit sind sie von ferne vergleichbar mit den Rotariern oder den Lions. Ihre Mitglieder sind wohlhabend und prominent. Ihre wichtigste Aufgabe ist, gute Werke zu verrichten, um den gefürchteten Qualen der Hölle zu entgehen oder sie zumindest abzukürzen. Sie spenden den Armen und helfen ihren Mitbrüdern, wenn die in Not geraten. Ist ein Bruderschaftsmitglied verstorben, richten die Mitbrüder sein Begräbnis aus und unterstützen die Hinterbliebenen.

Die älteste Bruderschaft ist die des heiligen Nikolaus, erstmals 1395 überliefert. An ihrem Altar liest jeden Tag ein Vikar eine Messe für das Seelenheil der verstorbenen Bruderschaftsmitglieder. Von den lebenden Nikolaus-Brüdern wird er dafür gut besoldet, in der Hoffnung, dass ihnen nach ihrem Tod das Gleiche geschieht. Solche Stellen sind unter den Geistlichen beliebt, denn sie sind mit einem guten Gehalt und wenig Arbeit verbunden.

Es ist weltweit eine Phase des Umbruchs. Neuerungen deuten sich an. Die Kirche, an die man sich bisher gehalten hat, ist gespalten: Seit 1378 gibt es zwei Päpste, der eine sitzt in Avignon, der andere in Rom. Viele suchen Zuflucht bei konkreten Symbolen, an die sie sich halten können, wie Statuen von Heiligen und Altäre. Alle paar Wochen zieht in Kempen mit flatternden Fahnen und hoch gehaltenen Heiligenbildern eine Prozession durch die Straßen. Die heilige Messe ist lange Zeit ein Gottesdienst nur für Geistliche gewesen; die einfachen Leute sahen sich auf die Rolle von Zuschauern beschränkt. Jetzt aber glauben die Menschen, der Heiland sei bei der Messfeier wirklich anwesend, deshalb bewirke sie mehr als alle Gebete. Zu dem einen Altar, den es bisher in der um 1200 errichteten Pfarrkirche gegeben hat, kommen 15 weitere bis 1515 hinzu. Die Heiligen, denen sie geweiht sind, gelten als Schutzpatrone gegen bestimmte Unglücksfälle. Da ist die heilige Anna. In Kempen ist sie besonders beliebt, gilt sie doch als Mutter der Stadtpatronin, der heiligen Jungfrau. Anna soll die Menschen bei Gewittern schützen. Da ist Johannes der Täufer. Er ist der Schutzherr der Lämmer, Schafe und Haustiere. Da ist St. Christophorus. Er gehört zu den Pestheiligen, die in diesem 15. Jahrhundert eifrig verehrt werden.

Ein Wort noch zur Kommunikation. Was uns heute das Internet ist, sind den Menschen damals die Kirchenglocken: Das wichtigste Instrument der Nachrichtenübermittlung. Mit ihrem Geläute weisen sie auf besondere Ereignisse hin wie Hochzeiten, den Tod einer prominenten Persönlichkeit, das Ende eines Krieges oder öffentliche Feste. Kurz: Sie begleiten den Tagesablauf der Menschen und sind ihnen von Klang und Lautstärke her vertraut. Daher werden sie von den Bürgern mit Namen versehen. Drei Glocken aus alter Zeit hängen heute noch im Turm der Propsteikirche. Die ersten beiden kündeten von ungewöhnlichen Ereignissen. Das sind die Marienglocke von 1408 und die Josephsglocke von 1487. Sie haben die Menschen bei Feuersbrünsten alarmiert. Sie haben vor dem heranrückenden Feind gewarnt, und sie haben den Einzug des Kurfürsten gefeiert, wenn der die Stadt besuchte. Und da ist die dritte Glocke, 1574 gegossen: die kleine Vesper- oder Totenglocke. Sie hat die Kempener auf ihrem letzten Weg begleitet, wenn sie zu Grabe getragen wurden.

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