Stadt Kempen Kritischer Chronist mit dem Zeichenstift

Stadt Kempen · Er gehörte zur Neuen Frankfurter Schule, arbeitete für Pardon und Titanic, war an der Hochschule der Künste in Berlin deutschlandweit der einzige Professor für Karikatur. Am Sonntag las er im Rokokosaal aus seinen Gedichten.

 "Bernsteinigt Deutschland" forderte Wiglaf Droste in einer Hymne auf den Zeichner und Dichter F.W. Bernstein. Von seiner Doppelbegabung kam in Kempen vor allem die "Lürik" zur Geltung.

"Bernsteinigt Deutschland" forderte Wiglaf Droste in einer Hymne auf den Zeichner und Dichter F.W. Bernstein. Von seiner Doppelbegabung kam in Kempen vor allem die "Lürik" zur Geltung.

Foto: ACHIM HÜSKES

Es waren wohl vor allem Kenner, die am Sonntagmorgen zur Lesung von F.W. Bernstein ins Kulturforum Franziskanerkloster gekommen waren. Rund 40 Besucher genossen einen Morgen zwischen scharfzüngiger Alltagsbeobachtung und Reminiszenzen eines Urgesteins der Satire: F. W. Bernstein, das ist eigentlich Fritz Weigle, 1938 in Göppingen geboren. Seinen Spitznamen aus Schülerzeiten machte er zu seinem Künstlernamen.

Vor der Lesung gab es eine sehr persönliche Einführung von Heike Dreselow, Fachbereichsleiterin bei der Kreisvolkshochschule, die gemeinsam mit dem Förderverein der Stadtbibliothek die Lesung veranstaltete. Dreselow war selbst Schülerin von Bernstein, sie verbindet nis heute eine langjährige Freundschaft mit ihm. Sie bewundert sein stetes Arbeiten und Zeichnen. Nie sei er ohne Notizbuch unterwegs, die Trennung von Leben und Zeichnung sei bei ihm aufgehoben. Sie erinnerte sich an ihr eigenes Studium. Die Aufgabe lautete damals immer wieder, neue Wege zu finden, Behauptungen aufzustellen und zu fragen.

Bernstein dankte offensichtlich gerührt für die Einführung. "So wünscht man sich einen Nachruf". Da blitzte schon sein schier unerschütterlicher Humor durch. Dreslow und ihrer Kunst widmet er auch später in der Lesung einen eigenen Text. Wenn sie zeichne, wäre das wie ein Paradiestag, so viele Tier entstünden dabei. Zunächst wollte er über sich und seine Werke lesen, kündigte er an. Und das ist ein weiter Bogen. Ganz vergnüglich ist es, wie er die Kommentare von Besuchern über Lesungen auf die Schippe nimmt. Wahrscheinlich tausendmal gehört, aber er hat es eben bissig und auf den Punkt gebracht aufgeschrieben. Zwischen Lob und Tadel mischt sich da die Frage, welches Lokal man denn im Anschluss besuchen könne oder wie man den Abend beschließe. Oder ob sich die Lesung überhaupt gelohnt habe.

Aber er kann auch ganz behutsam und leise sein. Wenn er über den Abriss seines Elternhauses in Göppingen schreibt, dann geht es nicht nur um Steine, die da einem modernen Einkaufszentrum weichen mussten, sondern um all die Erinnerungen, die mit dem Haus und der heimatlichen Straße verbunden waren. Und Bernstein kann auch wunderbar die "kleinen Schmerzen" beschreiben, über die er in seinem fortgeschrittenen Alter klagt - Bernstein ist 77 Jahre alt. Und dann beschäftigt er sich gleich anschließend mit der wichtigen Frage von Sein und Nichtsein oder es gibt eine hinreißende Philosophie des Liebesakts.

Der Fundus dieses Alltags- und Lebensbetrachters scheint unermesslich. Umso wehmütiger stimmen einen die Erinnerungen, die an längst verstorbene Freunde aus Zeiten der Neuen Frankfurter Schule zu Papier gebracht hat. Da führen Bernd Pfarr und Chlodwig Poth "Gottes Pfuschwerk" betrachtend einen Dialog auf ihrer Wolke. In liebevoller Zueignung gibt es ein Gedicht für Robert Gernhardt, ebenso ein Andenken an F.K. Waechter.

Es war ein beeindruckender Morgen in dieser Mischung aus Humor und Ernst. Und im Applaus schwang wohl auch die Bewunderung für einen weisen alten Mann mit. Bernstein möge uns bitte noch lange erhalten bleiben, solche Multitalente des klugen, feinsinnigen Humors gibt es nicht mehr oft.

(sr)
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