Serie Vor 179 Jahren Kempen bekommt ein Lehrerseminar

Kempen · Nach der Vertreibung der Franzosen ist das Rheinland 1815 zum Königreich Preußen gekommen. Die neue Regierung setzt auf Ordnung und Bildung, ihr besonderes Augenmerk richtet sie auf das veraltete Schulwesen. Die Qualifikation der Schulmeister, die in ihren überfüllten Klassen den Rohrstock schwingen, ist meist mehr als dürftig. Das Schulgeld, das die Eltern ihnen zahlen, ist gering. Die meisten sind auf ein Zubrot angewiesen, schlagen sich durch mit Feldarbeit, Schnapsbrennen und dergleichen. Kurz: In den Bildungssektor weht nun ein frischer Wind, er bekommt ausgebildete Pädagogen.

 Männerrunde: Schüler und Lehrer des Seminars vergnügen sich am Billardtisch.

Männerrunde: Schüler und Lehrer des Seminars vergnügen sich am Billardtisch.

Foto: Archiv Hella Furtwängler

KEMPEN Damals sind die Volksschulen noch streng konfessionell. Zwar sind vier Fünftel der Bevölkerung im Rheinland katholisch, aber die preußische Regierung ist protestantisch geprägt, und deshalb dienen die ersten Lehrerseminare, die sie 1819 in Neuwied und ein Jahr später in Moers errichtet, der Ausbildung evangelischer Pädagogen. Erst 1823 wird Brühl bei Bonn Standort eines katholischen Seminars. Aber es kann den Bedarf an Nachwuchslehrern bei weitem nicht decken. So ordnet die preußische Regierung am 11. Februar 1838 die Errichtung eines zweiten Seminars an. Es soll das nördliche Rheinland versorgen, und es kommt nach Kempen.

 Der Rokokosaal war die Aula des Lehrerseminars, ausgestattet mit einfachen Schulbänken. Hier beging die Stadt ihre offiziellen Feiern.

Der Rokokosaal war die Aula des Lehrerseminars, ausgestattet mit einfachen Schulbänken. Hier beging die Stadt ihre offiziellen Feiern.

Foto: Kulturamt Kempen

Am 16. Mai 1839 vermietet Kempens Bürgermeister Franz Theodor Foerster zunächst das heutige Haus Franziskus neben der Paterskirche an den preußischen Staat zur Unterbringung der neuen Lehranstalt. Die wird am 1. Juni 1840 feierlich eröffnet und findet sofort großen Andrang. Im Franziskanerkloster - dem heutigen Kulturforum - werden weitere Räume angemietet, und bald bereiten sich 80 Zöglinge jeweils zwei Jahre lang auf den Beruf des Volkschullehrers vor. Zu Ostern 1842 sind es schon 100. Hinter ihnen liegt eine mindestens einjährige Vorbereitungszeit, aber viele haben nur die Volksschule absolviert und sich dann die notwendigen Kenntnisse bei einem Lehrer oder Kaplan in ihrem Wohnort angeeignet. Erst Jahrzehnte später wird die Vorbereitung auf den Besuch des Lehrerseminars vom Staat vereinheitlicht, und 1902 nimmt das Kloster eine Präparandenanstalt auf. Hier müssen die jungen Leute, die das Seminar besuchen wollen, sich zunächst als "Präparanden" in drei aufsteigenden Klassen auf den Seminarbesuch vorbereiten. Sie müssen - das ist neu - auch eine Fremdsprache lernen, in der Regel Französisch. Erziehungsarbeit, so glaubt man damals, sei nur in der Gemeinschaft ersprießlich. Also dient das Klostergebäude nicht nur als Seminar, es ist auch das Internat für die 16 bis 20 Jahre alten Seminaristen. 1841 nimmt es zusätzlich eine Schule für taubstumme Kinder auf. Dadurch wird's noch enger für das Seminar, als es bisher im Kloster schon ist, denn seit dem 23. April 1804 ist dort auch das Thomaeum untergebracht. Zu jener Zeit ist es allerdings kein Gymnasium im vollwertigen Sinne. Es wird "Collegium Thomaeum" genannt, bereitet nicht auf ein Studium, sondern mehr auf das praktische Leben vor und ist am ehesten noch einer heutigen Realschule vergleichbar.

 Das Lehrerseminar um 1912 in seinem Neubau: Im Vordergrund sind Schüler der vierklassigen Übungsschule zu sehen, die hier von den Seminaristen im Rahmen ihrer Ausbildung unterrichtet wurden.

Das Lehrerseminar um 1912 in seinem Neubau: Im Vordergrund sind Schüler der vierklassigen Übungsschule zu sehen, die hier von den Seminaristen im Rahmen ihrer Ausbildung unterrichtet wurden.

Foto: Nachlass Karl Wolters

Das Zusammenleben der 100 Seminaristen auf engem Raum gefährdete ihre Gesundheit. Im Winter glitzerte im einzigen Waschraum im Erdgeschoss das Eis an den Wänden, die Hygiene war katastrophal. 1852 starben sechs Seminaristen an Typhus, daraufhin kamen die Toiletten in einen geräumigeren Neubau auf dem Hof. Der Klostergarten, in dem bisher nur die Lehrer lustwandeln durften, wurde nun Turn- und Spielplatz.

Und der Ausbildungsbetrieb? Ihren theoretischen Unterricht erhielten die jungen Lehreranwärter in Räumen des Klosters. Dort nahmen sie auch ihre praktischen Übungen unter der Anleitung ihrer erfahrenen Seminarlehrer vor; an ausgewählten Schülergruppen der vierklassigen städtischen Knabenschule, die seit 1822 an der Judenstraße 16 lag, an der Stelle des heutigen Geschäfts von Photo Porst. Damit wurde diese Kempener "Elementarschule", heute würden wir Grund- bzw. Hauptschule sagen, eine Seminar-Übungsschule, in deren Verwaltung sich das staatliche Seminar und die Stadt Kempen teilten. 1850 ging sie wieder ganz an die Stadt zurück. 1882 wurde eine seminareigene Übungsschule mit 120 Kindern in vier Klassen im Seminargebäude selbst eröffnet, also im Kloster.

Dort war inzwischen mehr Platz geworden. Am 8. Oktober 1863 zog das Thomaeum aus dem Klostergebäude in die nach einem Brand wieder hergestellte Burg. Im Herbst 1875 bezog die bis dahin als Teil des Seminars im Kloster untergebrachte Taubstummenschule ein eigenes Haus an der St. Töniser Straße. Schließlich wurden Teile des Schulbetriebes aus dem Kloster in neue Gebäude ausgelagert: 1863 bekam das Seminar eine Turnhalle an der Burgstraße, die 1889 um ein Drittel erweitert wurde, unter anderem um moderne Baderäume. Die Innovation bereitete den Weg für das spätere Stadtbad, das 1917 40 Meter weiter an der Stelle der heutigen Orsaystraße fertig gestellt und 1974 abgebrochen wurde. 1878 entstand an der Ecke Thomasstraße/Burgstraße ein geräumiges Haus, das spätere, 1957 abgebrochene Katasteramt. In ihm kamen der Speisesaal des Seminars unter, Wirtschaftsräume und ein Musikzimmer. Kurz: Die Bauten des Lehrbetriebs prägten bald die umliegenden Straßen.

Um 1905 platzt das alte Franziskanerkloster aus allen Nähten, muss es doch drei Einrichtungen beherbergen: Das Lehrerseminar und die Präparandenanstalt, die zur wissenschaftlichen Vorbereitung des Seminarbesuchs dient, als drittes die Seminar-Übungsschule. Eine Erweiterung des historischen Klosters wird abgelehnt. Im Mai 1909 nimmt am Möhlenring der Bauunternehmer Heinrich Schmitz, der Großvater des heutigen Firmenchefs Ralf Schmitz, im Auftrag der Stadt Kempen einen Neubau in Angriff; wir kennen ihn als den heutigen Altbau des Thomaeums. Architekt des neobarocken Gebäudes ist der Kreisbaurat Wilhelm Adolf Ledschbor; er hat auch die Bauaufsicht. Hier zieht das Seminar am 3. Oktober 1910 ein. Aber jetzt ist es kein Internat mehr. Die Seminaristen wohnen neuerdings in Privatquartieren in der Stadt.

Der Erste Weltkrieg, vor allem aber die nachfolgende belgische Besatzung ab Dezember 1918 mit Einquartierung im Seminar bringen dessen Betrieb großenteils zum Erliegen. In der Weimarer Republik kommt es zu einer Reform des Bildungswesens. Nach einem Minister-Erlass vom Oktober 1924 übernehmen jetzt Pädagogische Akademien die Ausbildung der angehenden Lehrer. Mit dem Auslaufen des letzten Kurses schließt das Kempener Seminar im Herbst 1925 seine Pforten. Aus der zu klein gewordenen Burg zieht hier das Thomaeum ein. Am 24. November 1925 begeht ein Festakt die Umwandlung des Seminar- in ein Gymnasiums-Gebäude.

In der nächsten Folge: 104 Jahre Rosenmontagszug in Kempen

(hk-)
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