Stadt Kempen Jüdisches Leben in der Region

Stadt Kempen · Der Düsseldorfer Historiker Prof. Stefan Rohrbacher sprach auf Einladung des Kempener Geschichts- und Museumsvereins und der Kreisvolkshochschule über jüdisches Lebens im ländlichen Raum des Rheinlandes.

Beim Jubelfest der Feuerwehr in Vorst saßen 1935 noch zwei alte jüdische Feuerwehrleute in der Ehrenkutsche und wurden durch den Ort gefahren. Drei Jahre später wurde einer von ihnen brutal gequält und misshandelt. Unter den Angreifern waren wohlbekannte Gesichter aus der Nachbarschaft. „Es gab kein Entrinnen mehr vor den Feinden in braunen Uniformen, es gab aber auch kein Entrinnen mehr vor der Einsicht, dass alles aufgekündigt worden war“, zog Professor Stefan Rohrbacher das Fazit eines früher durchaus friedlichen Zusammenlebens. Auch hier brannten die Synagogen und wurden nicht wieder aufgebaut.

Der Düsseldorfer Historiker, der jetzt auf Einladung des Kempener Geschichts- und Museumsvereins und der Kreisvolkshochschule im vollbesetzten Rokokosaal sprach, spannte bei der Schilderung jüdischen Lebens im ländlichen Raum des Rheinlandes einen weiten Rahmen, der bis nach Süddeutschland ausgedehnt wurde. Nach ihrer Vertreibung aus den großen Städten zum Ende des Mittelalters siedelten sie sich in kleinen Herrschaften (gegen Schutzgeld) oder strittigen Herrschaftsgebieten an.

Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Kreisgebiet 125 jüdische Familien mit dem Schwerpunkt in Kempen, Dülken, Hüls, St. Tönis und Süchteln gezählt. Sie waren zu einer Synagogengemeinde zusammengefasst, weil die Gemeinden in den einzelnen Orten nicht groß genug waren. Juden waren meist Getreide- und Viehhändler, Metzger und Hausierhändler, die oft mit großem Argwohn betrachtet wurden. Reich ist auf dem Lande kaum einer geworden, auch die Pfandleiher nicht, denen von christlicher Seite oft Wucher unterstellt wurde.

Das christlich-jüdische Zusammenleben war oft von großer Vertrautheit, die aber auch Fremdheit umschlagen konnte. Als Beispiel nannte Rohrbacher die Hysterie nach vermeintlich von Juden verübten Morden, die sogar in Willich zu einem Nachspiel führte, als dort ein Jude wegen eines anderen Mordes erpresst wurde. Doch der Erpresser hatte nicht mit dem katholischen Pfarrer gerechnet, an den sich der Jude wandte („Beide teilten sich den Bezug einer Zeitung“): Der Erpresser wurde als Mörder überführt. Schrumpften die jüdischen Landgemeinden zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen Überalterung, so löschten die Nationalsozialisten sie völlig aus. Verließen viele „den Ort, wo jeder alles weiß, wo nicht mehr an ein gemeinschaftliches Weiterleben zu denken ist“, so wurden die Ausharrenden später deportiert. Rohrbacher nannte hier die Bewohner des jüdischen Altersheimes in St. Tönis (1942) und den letzten jüdischen Einwohner in Anrath, der 1944 vom örtlichen Judenbeauftragten mit dem Fahrrad zur Deportation abgeholt wurde.

(RP)
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