Hinweise bei archäologischen Ausgrabungen Lag Kempens erste Burg im Zentrum?

Kempen · Nach dem Abriss von Spielwaren Stein an der Ellenstraße untersuchten Archäologen das Gelände. Was sie zutage förderten, könnte dazu beitragen, dass Kempens Geschichte neu betrachtet werden muss.

 Die Moosgasse in der Kempener Innenstadt in den 1950er Jahren – im Hintergrund sind in der Mauer Schießscharten zu sehen (blaue Pfeile).

Die Moosgasse in der Kempener Innenstadt in den 1950er Jahren – im Hintergrund sind in der Mauer Schießscharten zu sehen (blaue Pfeile).

Foto: KAV (Kreisarchiv Viersen), LS 11430

Die Geschichte der Stadt Kempen muss möglicherweise umgeschrieben werden. Darauf deuten die Ergebnisse einer archäologischen Ausgrabung hin, die in der Innenstadt durchgeführt wurde. Nachdem das Haus von Spielwaren Stein an der Ellenstraße 40 nach einem Brand 2011 unbewohnbar war, wurde es 2018 abgerissen. Danach untersuchte ein Grabungsteam der Firma Ardika aus Kleve, die archäologische Dienstleistungen anbietet, im Auftrag des LVR-Amts für Bodendenkmalpflege das Gelände.

Zum Grabungsteam gehörte auch Tina Hirop, die als Stadtführerin mit der Geschichte Kempens bestens vertraut ist und seit einigen Jahren beim Kreisarchiv tätig ist. Sie stellte nun bereits zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Kempener Geschichts- und Museumsverein die Ergebnisse der Grabung vor – vor Publikum im Rokokosaal des Franziskanerforums und via Zoom-Meeting als Angebot für Interessierte, die aufgrund der Corona-Beschränkungen keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten. Per Video-Chat konnten die Zuhörer daheim den Vortrag bequem verfolgen.

 Tina Hirop gehörte zum Grabungsteam.

Tina Hirop gehörte zum Grabungsteam.

Foto: Wolfgang Kaiser (woka)

Unter dem Titel „Von Campunni zu Kempen – Neueste Erkenntnisse zur Siedlungsgeschichte“ beschrieb Hirop die Arbeiten an zwei Grundstücken an der Ellenstraße, bei denen der Einsatz von Archäologen gefordert war. Da war zunächst das Areal von Haushaltswaren Heitzer an der Ellenstraße 16, das 2017 komplett abgerissen wurde. Dabei fand man einen Teil einer Fachwerkwand – ein erster Hinweis auf eine ältere Bebauung an dieser Stelle. Grabungen förderten einen Keller zutage, in dessen Wänden sich gotische Lichtnischen befanden: kleine Nischen, oben spitz zulaufend, in die man ein Licht stellen konnte. Solche Nischen sind heute noch an manchen Burgen zu sehen, wie Hirop zeigte: auf Burg Friedestrom in Zons etwa oder über dem Eingang der Burg Brüggen. Auch am Klosterhof in Kempen wurden solche Nischen aus dem 14./15. Jahrhundert gefunden. Die Eigentümer seien „sehr erstaunt“ über den Fund gewesen, berichtete Hirop, denn sie hatten diesen Keller nie zuvor gesehen.

Neben dem Keller fanden die Experten auf dem Gelände auch eine alte Zisterne, einen Wasserspeicher sowie die Überreste eines Wassergrabens. Zu den kleineren Fundstücken gehörten ein blau glasierter Vogel aus Westerwälder Keramik, ein Teil eines Zinnlöffels, Scherben von Keramik und Porzellan, Patronenhülsen aus dem Zweiten Weltkrieg und Reste von Tellerminen, die Hirop beim Graben entdeckte.

 Bei den Abrissarbeiten wurde diese Bogenscharte entdeckt.

Bei den Abrissarbeiten wurde diese Bogenscharte entdeckt.

Foto: Tina Hirop

Die nächste Grabungsstelle für die Archäologen war das Gelände von Spielwaren Stein. Auch dort wurden in der Abrissphase Fachwerkbalken gefunden, die auf eine ältere Bebauung schließen ließen. Man entdeckte Überreste eines Schmiedeofens, Teile älterer Fundamente, zwei Kellerräume, von denen einer, mit Tonnengewölbe versehen, aus dem 12./13. Jahrhundert datiert, ein zweiter aus dem 14./15. Jahrhundert, und die mit einem Durchgang verbunden waren, einen Kamin und einige Keramik-Stücke. Doch die spannendste Entdeckung machte Hirop bei einem Besuch auf der Baustelle, als sie die Mauern sah. Denn in den über Eck laufenden beiden Mauern, die nach Norden und Westen wiesen, sah sie hohe Schlitze im Mauerwerk: vermutlich Schießscharten für Bogenschützen.

Beim Burgenbau wurden solche Bogenscharten ins Mauerwerk eingelassen. Ab einer gewissen Mauerstärke mussten Nischen eingebaut werden, damit der Schütze seinen Bogen auch gut spannen, nach oben und unten zielen konnte, wie Hirop den Zuhörern erläuterte. Solche Bogenscharten seien heute sehr selten, erklärte sie – denn die Burgen wurden immer wieder an die Entwicklung angepasst. Mit der Verbreitung des Schwarzpulvers und der Feuerwaffen im 14. Jahrhundert brauchte man Bögen nicht mehr, auch die Scharten wurden verändert. Für Feuerwaffen verwendete man beispielsweise Schlüsselscharten, wie sie in Kempen noch an der Mühle am Ring zu sehen sind.

Für Hirop ist dieser Fund ein Indiz dafür, dass die Mauern mit den Bogenscharten, die auf dem Grundstück an der Ellenstraße entdeckt wurden, aus dem 13. Jahrhundert stammen. Ein weiteres Detail stützt diese These: So wurden auf dem Grundstück etwa 28 cm lange Ziegelsteine gesichert. Solche Steine wurde 2016 auch bei einer Untersuchung der Kempener Burg entdeckt und einem Vorgängerbau der heutigen Burg zugeschrieben. Sie stammen aus dem 13. Jahrhundert.

Dort an der Ellenstraße stand also im 13. Jahrhundert ein Gebäude, dessen Mauern mit Bogenscharten ausgestattet waren. Eine wehrhafte Anlage, U-förmig, wie Hirop anhand des Urkatasterplans verdeutlichte, und strategisch gut gelegen: Denn dieser Bau befand sich an der Grenze zwischen den beiden Honschaften Broich und Schmalbroich, und zwar dort, wo sich die wichtigen Wege (Peterstraße/Kuhstraße sowie Ellenstraße/Engerstraße) kreuzten. Ein administratives Zentrum an den Honschaftsgrenzen, wie Hirop ausführte. Handwerker und Bauern siedelten um diesen ersten Fronhof, eine Kirche wurde gebaut. Auch dafür gibt es Indizien, denn bei Untersuchungen an St. Mariae Geburt wurden verkohlte Holzbalken, Lehmfachwerk und römische Dachziegel gefunden, die auf eine ältere Kirche an dieser Stelle schließen lassen.

Hirop ist überzeugt davon, dass es sich bei dem Gebäude an der Ellenstraße um den Fronhof, die „erzbischöfliche Villa“ handelte, der später zur Burg ausgebaut wurde. Als die Wehranlage für die wachsenden administrativen Aufgaben nicht mehr ausreichte, sich die Bebauung in dem Bereich zwischen Fronhof und Kirche verdichtete, sei ein Neubau notwendig geworden – an anderer Stelle, eben dort, wo heute die Kempener Burg steht. Weil die Mauern der alten Burg im Laufe der Zeit wieder benutzt worden seien, habe der Buttermarkt im südlichen Teil seine heute noch sichtbare Trapezform erhalten.

Viele Indizien sprechen dafür, dass Kempens erste Burg im Herzen der heutigen Innenstadt stand. Hirop jedenfalls ist überzeugt davon – auch wenn es einige Historiker gegeben habe, die nach dem ersten Vortrag versucht hätten, ihr diese These wieder auszureden, wie sie nun berichtete. Doch jetzt müsse man auch auf die Erkenntnisse vertrauen. „Wir haben auch am Markt gegraben, bei ,La Piazza’“, machte sie neugierig. Zu viel wolle sie nicht verraten, doch sei dabei ein Wassergraben gefunden worden, „der wahrscheinlich zu unserer kleinen Burg gehört hat“.

Mehr über die Erkenntnisse aus den Grabungen ist im neuen Heimatbuch des Kreises Viersen zu erfahren, das im November erscheint.

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