Fakten & Hintergrund In schweren Zeiten zusammenhalten

Kempen · Deutschland in der Corona-Krise: Das bedeutet radikale Änderungen im Alltag, Wegfall geliebter Gewohnheiten. Trotzdem gibt es Menschen, die gegen die notwendigen Regeln verstoßen, indem sie sorglos nach draußen gehen und riskieren, sich selbst und andere zu infizieren. Sie sollten wissen: Nur wenn alle sich verantwortlich fühlen, besteht kein Grund zu Angst und Pessimismus. Das lehrt uns die Geschichte. Unsere Kriegs- und Nachkriegs-Generationen haben ganz andere Herausforderungen bewältigt – weil sie tapfer waren, Solidarität bewiesen und Opfer brachten. Ein Rückblick, wozu Menschen in schweren Zeiten fähig sind.

 Marianne Elbers (links) und Katharina Beckmann gut gelaunt beim Aufräumen auf der Schulstraße in der Kempener Altstadt.

Marianne Elbers (links) und Katharina Beckmann gut gelaunt beim Aufräumen auf der Schulstraße in der Kempener Altstadt.

Foto: Stefan Kirsch

im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges, in diesem Jahr vor 76 Jahren: Von Lebensqualität kann keine Rede mehr sein. Ersatzstoffe haben die Originalprodukte verdrängt. Wolldecken sind jetzt von Holzfasern durchwirkt. Statt Honig gibt’s ein gelbes Gemisch in Pappbechern, statt Zucker Süßstoff. Statt des sonntäglichen Bohnenkaffees wird Muckefuck eingeschenkt – den man aus den gemahlenen Wurzeln der Zichorie, einer Rübenpflanze, gewinnt. Die Kempener Kaffee-Rösterei Herfeldt, Engerstraße 48, produziert ihren Ersatzkaffee aus Zuckerrübenschnitzeln, die sie waggonweise geliefert bekommt. Am 3. Oktober 1944 stellt sie die Produktion ein. Gemüse gibt’s fast nur noch aus dem eigenen Garten. Den düngen die Kempener mit Pferdeäpfeln. Woher sie die beschaffen? Die Kinder laufen hinter den damals noch reichlich vorhandenen Pferden der Bauern her und sammeln die Rossäpfel mit einem Eimer.

Schwerwiegender ist, dass Ende des Monats der Stadt die Schuhe ausgehen; die Schuhgeschäfte malen ihre Fenster weiß aus, was heißen soll: „Keine Ware mehr!“ Anfang November 1944 sind Mehl, Salz, Talglichter und Streichhölzer Mangelware geworden. Dafür legen jetzt aufmüpfige Gastwirte fiktive Speise-Wochenpläne aus, voll Spott und Satire. „Fliegeralarmsuppe mit Sirenengeheuleinlage“ wird für den Montag angekündigt und „Churchill-Ragout in Kriegshetzersauce“ für den Sonntag.

„Im letzten Kriegsjahr gab es immer weniger zu essen“, hat sich die Kempenerin Maria Hüpkes erinnert. 1944 war sie zehn Jahre alt. Am 13. Februar dieses Jahres ist die humorvolle Frau verstorben – bis zuletzt erfüllt von der Lebenskraft der Kriegsgeneration. Hier aus ihren Erinnerungen eine Kostprobe: „In der Schule bekamen wir jeden Morgen Schulspeisung: einen großen Schöpflöffel voll wässriger Erbsensuppe. Meine Mädchenklasse bestand fast nur aus Bauernkindern, die natürlich genug zu essen hatten. Mein Vater hingegen hatte nur sein Gehalt als Angestellter beim Katasteramt, und deshalb war bei uns Schmalhans Küchenmeister. Aber ich wusste mir zu helfen. Meine Hauptbegabung lag im Schreiben von Aufsätzen, und damit verdiente ich mir zusätzliche Verpflegung: Wenn ich morgens vor dem Unterricht oder auch während der Schulstunden den Bauernmädels, die zu Hause gut verpflegt wurden, schnell einen Hausaufsatz schrieb, bekam ich ihre Schul-Zuteilung. Die trug ich in einem riesengroßen Soldatenkochgeschirr aus dem ersten Weltkrieg, einem „Henkelmann“, stolz nach Hause und verteilte sie an meine Familie. Still für mich hintröpfelnd und auf dem Boden eine Spur aus wässriger Suppe hinterlassend. Meine Mitschülerinnen haben mich deshalb oft ausgelacht, aber egal, wir hatten ein Essen!“

 Wir haben’s geschafft! Kempens Propsteikirche, am 2. März 1945 von Bomben der Alliierten schwer beschädigt, ist wieder hergestellt. Am 24. September 1948 setzen auf dem neu eingeschalten Turm der Zimmermeister Johann Derp­kens und sein Geselle Peter Hinsen die Fahne für ein Kirchenfest.  Foto: Willy Derpkens

Wir haben’s geschafft! Kempens Propsteikirche, am 2. März 1945 von Bomben der Alliierten schwer beschädigt, ist wieder hergestellt. Am 24. September 1948 setzen auf dem neu eingeschalten Turm der Zimmermeister Johann Derp­kens und sein Geselle Peter Hinsen die Fahne für ein Kirchenfest. Foto: Willy Derpkens

Foto: Willy Derpkens

Fast jede Nacht scheuchen die Sirenen die Menschen in die Luftschutzkeller. Gegen die Strapazen der Bombennächte entwickeln die Kempener grimmigen Humor. In der Stadt kursieren Flugblätter, die zum „Kempener Kellerfest“ einladen. Eröffnet wird die Party durch den „Einleitungsmarsch: Zauber der Sirenen“, dann folgt ein „Riesenfeuerwerk im Freien“. Die Gestapo lässt die Spottdrosseln gewähren, um der Bevölkerung ein letztes Ventil für Angst und Wut zu verschaffen. „Überleben Sie!“, ist nun an die Stelle des vorgeschriebenen „Heil Hitler!“ getreten. Schließlich: Wer weiß mittags schon, ob er am Abend noch lebt? Auch wenn der Krieg verloren ist – ihre Hoffnung verlieren die Menschen nicht.

Ihr Durchhaltevermögen ist erstaunlich. „Auch wenn wir Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen – trotzdem den Kopf nicht hängen lassen, und ist es noch so schwer!“ schreibt die 20-jährige Kempenerin Marianne Westphal ihrem Mann, der sich in München von einer Verwundung erholt, am 26. März 1944. Und fügt aufmunternd hinzu: „Und immer ein frohes Gesicht!“ Das verliert sie erst, als sie erfährt, dass ihr Schwager Max Westphal schon vor einiger Zeit, am 13. März, in Estland an einem schweren Lungen-Bauchschuss gestorben ist. Als Folge seines Todes erkrankt ihre Schwägerin Fine an schwerem Nervenfieber.

Der Ton in Marianne Westphals Briefen wird ernster, sie zeigt mehr und mehr Anzeichen von Erschöpfung. Aber ihre tapfere Haltung gegenüber Familie und Freunden verliert sie nicht, Selbstmitleid darf nicht aufkommen: „Den Mut dürfen wir nicht sinken lassen!“, schreibt sie am 8. September 1944, zwei Monate, nachdem die Alliierten in der Normandie gelandet sind und ihr Bruder Hans, der dort im Einsatz steht, vermisst wird. Schließlich: Die Arbeit muss ja auch getan werden. Wichtig ist: sich trotz aller Angst zusammenzureißen und durchzuhalten. Eine Haltung, die wohl typisch ist für die meisten Menschen in jener Phase des Krieges.

Dann ist der Krieg wirklich zu Ende. Von Oedt her stoßen die Amerikaner auf Kempen vor. An der Mülhauser Straße kommt den Panzern der Kempener Kaplan Heinrich Hastenrath, dessen rechtes Bein von der Kinderlähmung gelähmt ist, unerschrocken auf seinem Fahrrad entgegen. Er will nachsehen, ob in den Straßengräben verwundete deutsche Soldaten liegen.

„Hurra, wir leben noch!“ Das ist das Gefühl, das jetzt die meisten Einwohner beseelt. Irmgard und Elisabeth Schmitz, 15 und 17 Jahre alt, wohnen mit der Mutter in der Milchhandlung von Johann und Billa Wahl, Rabenstraße 2. Stolz führen sie die Kleidchen aus, die die Mutter ihnen genäht hat. Weil immer noch kein Strom da ist und die elektrische Teigmaschine nicht läuft, treten die Bäcker nach Urväterart den Teig in einer hölzernen Mulde. „Ich hab’ noch nie so saubere Füße gehabt!“, erinnert sich der Kempener Bäckermeister und Ehrenbürger Karl-Heinz Hermans. 1946 organisiert er mit anderen die erste Tanzstunde nach dem Krieg; zum Abschlussball kommen die Jungs in geliehenen Knickerbockern.

Bereits wenige Monate nach Kriegsende sind in Kempen die ersten Ostflüchtlinge erschienen, ausgehungert und zerlumpt. Anfang Februar 1946 kommt der erste Sammeltransport gewaltsam Vertriebener an: 60 Frauen und Kinder aus Ostpreußen. Am 31. Oktober 1946 gibt es von ihnen in Kempen 933, in St. Hubert 479. Sie sind zunächst in Massenquartieren wie Gasthaussälen untergebracht. Ihre Lebensumstände sind erbärmlich. Aber sie resignieren nicht. Vor allem die Frauen halten die Familien zusammen, stehen bei Wohnungs- und Arbeitssuche „ihren Mann“. Die Menschen aus dem Osten stehen zusammen, organisieren mithilfe der Kempener Kirchen Vorträge und Weihnachtsfeiern. Die erste findet am 23. Dezember 1946 statt. Viele Bedürftige freuen sich über die einfachen Dinge des täglichen Bedarfs, über Äpfel und Kartoffeln, die die Einheimischen für sie gesammelt haben. In der Kreisstadt setzt sich Peter Kother, Kempens Bürgermeister in den ersten drei Nachkriegsjahren, mit besonderem Nachdruck für die Ostvertriebenen ein. Für den 28. Oktober 1946 organisiert er eine umfassende Sammlung. Sie soll die mittellosen Flüchtlinge mit dem Lebensnotwendigen versorgen. „Setzt Euren ganzen Stolz darein, diesen vom Schicksal so schwer Heimgesuchten jede Hilfe zukommen zu lassen!“, appelliert Kother an die Kempener. Die Sammlung wird ein voller Erfolg. In großen Mengen kommen Kleider, Wäsche und Hausrat auf die Tische des katholischen und evangelischen Frauenkreises, werden ausgebessert und zur Verteilung hergerichtet. Auch Kempener Schüler packen mit an, vor allem beim Reparieren der gesammelten Spielsachen.

Schwere Zeiten! Aber mit Hilfsbereitschaft, Disziplin und Solidarität wurden sie bewältigt. Unser Fazit: Wir werden Corona besiegen, wenn wir nicht nur an uns denken, sondern auch an die anderen. Wenn wir auf soziale Kontakte verzichten. Und unser Immunsystem mit Optimismus und Fröhlichkeit stärken. So schaffen wir das!

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