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Zeitzeugen berichten vom Krieg in Kempen Aus der Schule an die Geschütze

Kempen · Schüler des Kempener Gymnasiums Thomaeum dienten im Zweiten Weltkrieg als "Luftwaffenhelfer". Nicht alle kamen nach Hause zurück. Hier einige Berichte.

 2. November 1944: Die 16 Jahre alten Kempener Flakhelfer sind noch einmal auf dem Gelände Steinheide in Unterweiden angetreten, bevor es für nach Pommern geht. Hauptwachtmeister Bohnen aus Duisburg (links) und Oberfähnrich Hoppe (2.v.l.) inspizieren das Gepäck.

2. November 1944: Die 16 Jahre alten Kempener Flakhelfer sind noch einmal auf dem Gelände Steinheide in Unterweiden angetreten, bevor es für nach Pommern geht. Hauptwachtmeister Bohnen aus Duisburg (links) und Oberfähnrich Hoppe (2.v.l.) inspizieren das Gepäck.

Foto: Hans-Herbert Hillenbrands

Ende 1942 gehen der Flugabwehr (Flak) im Reich und in den besetzten Gebieten die Soldaten aus. Die zum Wehrdienst eingezogenen Flak-Soldaten müssen so bald wie möglich an die Front, denn seit dem Winter 1941/42 sind die Verluste im Russland-Feldzug enorm angestiegen. Andererseits erfordert der intensivierte Bombenkrieg der Alliierten einen Ausbau der Abwehr. So ergeht am 26. Januar 1943 eine Anordnung, wonach alle 15- und 16-jährigen Oberschüler zum Dienst in Geschütz- und Scheinwerferbatterien herangezogen werden, noch bevor sie ihren Dienst bei Arbeitsdienst und Wehrmacht antreten. Bis Kriegsende dürften insgesamt 200 000 dieser "Luftwaffenhelfer" im Einsatz gewesen sein.

Am 15. Februar 1943 geht zum ersten Mal eine Untersekunda, heute Klasse 10, aus dem Kempener Thomaeum an die Geschütze. Umfangreichere Informationen liegen über die Obertertia (heute: Klasse 9) des Jahrgangs 1928 vor. Ihre 24 Schüler - die meisten 15, einige 16 Jahre alt - sind im Dezember 1943 im Gesundheitsamt an der Kempener Von-Loe-Straße gemustert worden. Zwei Wochen später erhalten sie ihren Gestellungsbefehl zur schweren Flakbatterie 4./244 in Steinheide bei St. Tönis. Schutzobjekt ist die Stadt Krefeld und hier besonders das Edelstahlwerk im Süden der Stadt.

Einer von ihnen war Hans Herbert Hillenbrands, 1928 in Kempen als Sohn eines Gastwirtsehepaares geboren. Er berichtet: "Es war der 10. Januar 1944, morgens um sieben. Wir Flakhelfer standen mit unseren Koffern auf dem Kempener Bahnsteig und warteten auf den Zug, der uns nach Krefeld bringen würde; von dort sollte es - schon unter der Aufsicht eines Unteroffiziers - mit der Straßenbahn nach St. Tönis gehen und weiter zu Fuß in die Flakstellung nach Steinheide. Ich weiß noch wie heute, wie auf einmal der Bauer Karl Repelen neben uns stand und fragte: "Fahrt ihr in die Kinderlandverschickung?" Das traf uns doch in unserem Stolz als Wehrmachtsangehörige, und wir verstanden nicht, warum Repelen - ein Kerl wie ein Baum - dann in Tränen ausbrach und vor sich hin stammelte: "Diese Schweine! Kinder in den Krieg schicken!"

Für die Fünfzehnjährigen ist der Dienst hart, Freizeit gibt es kaum. Die Jugendlichen kommen kaum zum Schlafen. Schuld ist die angespannte Luftlage: Immer wieder steuern Feindflieger die Gegend an, dann laufen die Thomaeer mit den regulären Soldaten aus den Wohnbaracken an ihren Platz in der von Erdwällen umgebenen Feuerstellung, um in Bereitschaft zu sein - manchmal bis vier Uhr morgens. Auslöser sind meistens englische Schnellbomber, so genannte Mosquitos, die Aufklärung fliegen oder das Krefelder Stahlwerk angreifen. Am nächsten Morgen wird schon um sieben geweckt, damit um acht das Exerzieren an den Geschützen beginnen kann, um die Flakhelfer fit zu machen für die Fliegerabwehr der folgenden Nacht.

 Hans-Herbert Hillenbrands, Kempens letzter noch lebender Flakhelfer. Er berichtet über seine Erlebnisse im Kriegseinsatz.

Hans-Herbert Hillenbrands, Kempens letzter noch lebender Flakhelfer. Er berichtet über seine Erlebnisse im Kriegseinsatz.

Foto: Wolfgang Kaiser

Dann wieder müssen die Jugendlichen schanzen, Erdwälle aufwerfen und Laufgräben ziehen, damit ihre Stellung verbessert wird. Alkohol und Zigaretten sind streng verboten, werden durch Süßigkeiten wie Pfefferminzdrops ersetzt. Einmal die Woche steht Milchsuppe auf dem Verpflegungsplan.

In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1943 werfen 619 Flugzeuge an die 2100 Tonnen Bomben auf Krefeld ab, mehr als 1000 Menschen werden getötet. Die Strapazen der Nacht hinterlassen ihre Spuren auch bei den jugendlichen Flakhelfern in den Stellungen rings um die Stadt. "Als wir die Kempener Jungs in ihrer Stellung im Benrath an den Lemmenhöfen besuchten, trafen wir auf alte Männer, aschgrau im Gesicht", hat später Marianne Hubbertz, Tochter des Metzgermeisters Ludwig Hubbertz, berichtet. Am 17. Mai 1944 trägt der Kempener Luftwaffenhelfer Hannes Cobbers in sein Tagebuch ein: "Englische Bomberströme kehrten nachts vom Angriff auf Berlin zurück. Ich sah im heftigen Flakfeuer der ringsum stationierten Batterien sieben Bomber zu Boden gehen."

Dann, im November 1944, erfolgt der Abmarsch Richtung Osten. "In Pommern hatten wir die Aufgabe, das letzte verbliebene Hydrierwerk des Reiches zu verteidigen", berichtet Hans-Herbert Hillenbrands. Das Schutzobjekt ist das größte deutsche Hydrierwerk in Pölitz auf der anderen Seite der Oder - knapp 20 Kilometer nördlich von Stettin. Das Pölitzer Werk produziert aus Kartoffeln und Kohle synthetischen Treibstoff für die Wehrmacht; unter anderem fast die Hälfte des gesamten deutschen Jagdflugzeug-Benzins. Mit diesem Werk steht und fällt der Einsatz der deutschen Jagdabwehr. Unter seinen Arbeitern sind auch Häftlinge des KZ Stutthof bei Danzig. Sie leben auf dem Werksgelände in einem Außenlager. An die 50 Flakbatterien sind ringsum zum Schutz der Hydrieranlagen konzentriert.

Die Kempener hausen direkt am Oderufer in Baracken, die auf Stelzen gebaut sind. So kommt die Kälte auch von unten durch. Denn im Januar und Februar herrscht strenger Frost - bis minus 30 Grad. Immerhin ist vor Frostbeginn eine neue Latrine mit Donnerbalken - so nennt man das Sitzbrett für den Stuhlgang - ausgehoben worden. Aber bei dem ständigen Ostwind ist deren Benutzung kein Vergnügen. Die Kohlen zum Heizen der Mannschaftsbaracken müssen die Flakhelfer zum Teil durch die Löcher im Eis der Oder aus dem Hafenbecken fischen, wo sie beim Entladen verloren gegangen sind. Aber der Ofen wärmt nur seine nächste Umgebung. So ziehen die Jungs zum Schlafen alles an, was sie haben. Nur wenige trauen sich, morgens ans Oderufer zu gehen, ein kleines Loch zwischen die aufgetürmten Eisschollen zu schlagen, um mit einer Hand voll eisigen Wassers die Morgenwäsche vorzutäuschen. Das Essen ist knapp, besteht für gewöhnlich aus Pellkartoffeln, mit Steckrüben, Karotten oder Sauerkraut als Beilage. Sonntags gibt's immerhin Salzkartoffeln und Sauerbraten. Alle freuen sich auf den dienstfreien Abend, denn dann wird gesungen oder Filme werden vorgeführt - wenn nicht gerade der Strom ausfällt.

Die Russen stehen vor der Haustür; für die Luftwaffenhelfer ist mit Feindberührung zu rechnen. Ab dem 6. Januar 1945 werden sie infanteristisch ausgebildet - auch an der Panzerfaust. Dann erfolgt der Rückzug. Hans-Herbert Hillenbrands erinnert sich: "Als das Hydrierwerk endgültig zerstört war, richteten wir unsere 8,8-Zentimeter-Kanonen auf Erdziele: Russische Panzer und Infanterie. Auch wurden wir infanteristisch eingesetzt - taten Dienst im Schützengraben und gingen auf Spähtrupp. Bei einem solchen Unternehmen wurde unser Klassenkamerad Herbert Glasmachers aus Grefrath so schwer verwundet, dass er später im Lazarett starb. Seine letzten Worte waren: "Wär' ich doch noch mal nach Hause gefahren!"

In der Nacht des 27. März 1945 morgens um drei setzen die Jugendlichen mitsamt Geschützen und Munition in einem kleinen Schiff auf das westliche Oder-Ufer über. Eine Zugmaschine bringt sie nach Pölitz. Ein anderer Thomaeer aus dieser Einheit, Dr. Wolfgang Zerwes, später Leiter eines Gymnasiums in Essen, hat sich erinnert: "Dort fielen wir in den nächstgelegenen Hauseingängen in einen Schlaf der Erschöpfung." Am Nachmittag wird die aufgegebene Stellung von russischen Raketenwerfern, den berüchtigten Stalinorgeln, umgepflügt.

Die Kempener geraten mit ihrer Einheit in den Strudel der Rückzugskämpfe. Jetzt geht's nur noch darum, die Haut zu retten. Mit knapper Not gelangen sie in der Nacht vom 29. auf den 30. April 1945 auf der Eisenbahnbrücke über die Peene nach Usedom. Eine Viertelstunde nach ihrem Übergang jagt ein deutsches Sprengkommando die Brücke in die Luft. In den ersten Häusern, die drüben auftauchen, fallen die Kempener auf ausgelegtes Stroh. Was sie nicht wissen: Dort haben vorher völlig verwahrloste russische Kriegsgefangene geschlafen, das Stroh ist verlaust. Bis zur Entlassung aus der englischen Gefangenschaft werden ihnen die Läuse erhalten bleiben. Als sie am nächsten Morgen zum Appell antreten, sind von 120 Batterie-Angehörigen noch 39 übrig. Am 2. Mai 1945 - die Russen stehen schon in Norddeutschland - werden die blutjungen Soldaten in Güterwaggons verladen und rollen nach Swinemünde.

Durch die brennende Stadt laufen sie zum Hafen. Dort stehen auf dem Kai Tausende Kopf an Kopf und warten auf die rettende Einschiffung. Aber die Schiffe nehmen nur geschlossene Einheiten auf. An der entgegengesetzten Seite des Ortes dringen schon die ersten Rotarmisten ein.

Das Hilfskriegsschiff 27, ein Frachter, als Truppentransporter mit leichten Geschützen bewaffnet, nimmt die Kempener schließlich auf. Er ist das letzte Schiff, das Swinemünde verlässt. Am 7. Mai verkündet ein Offizier mit dem Megafon die Nachricht von der deutschen Kapitulation. Die Reichskriegsflagge sinkt vom Mast. Hillenbrands: "Unmittelbar neben mir zog ein junger Luftwaffenleutnant, etwa 20 Jahre alt, seinen Revolver und schoss sich durch den Kopf."

Die Engländer beordern den deutschen Transporter in die Lübecker Bucht. Als sie am darauf folgenden Sonntag, 13. Mai, bei strahlendem Frühlingswetter den Hafen von Neustadt anlaufen, sehen die Kempener seitab das Wrack der Cap Arcona liegen; ein einstiger Atlantik-Liner, der am 3. Mai mit 4600 KZ-Häftlingen an Bord durch englische Jagdbomber versenkt worden ist.

In Neustadt wartet die Internierung. Kriegsgefangene sind die Luftwaffenhelfer nicht. Für die deutschen Soldaten haben die Engländer in Schleswig-Holstein Sperrgebiete eingerichtet, in denen weiterhin die Kommandostrukturen der Wehrmacht gelten. Das vereinfacht die Kontrolle, Betreuung und Versorgung der gefangen genommenen Massen. Unter den wachsamen Augen britischer Soldaten werfen die Kempener ihre Waffen zu einem Haufen auf die Erde.

Als der ehemalige Luftwaffenhelfer Hannes Cobbers am 22. Juni 1945 nach Hause kommt, steht er vor den Trümmern seines Elternhauses. Amerikanische Jagdbomber haben es bei einem Angriff auf Kempen am 8. November 1944 zerstört. Zwei Wochen später wird Cobbers 17 Jahre alt.

(hk-)
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