Serie Zur Geschichte der Kempener Martin-Schule (5) Kempen bekommt eine Hauptschule
Kempen · 1968 führt die NRW-Schulreform zur Errichtung einer Hauptschule auch in Kempen.
21. September 1959: Als Nachfolger von Wilhelm Eckmanns wird Anton Hitpaß, vorher Leiter der Volksschule in Bracht, Rektor der Knabenvolksschule in Kempen. Eine neue Ära beginnt: Es wird Hitpaß sein, unter dem acht Jahre später die katholische Volksschule in eine konfessionsübergreifende Hauptschule umgewandelt werden wird. Aber einen solchen Umbruch kann sich der neue Chef bei seinem Amtsantritt noch nicht vorstellen. Hitpaß ist, wie damals üblich, bewusst katholisch. „Dem Konsumdenken der modernen Zeit gegenzusteuern und die jungen Menschen zu befähigen, das Diesseits zu bewältigen, um das andere Leben, das Leben nach dem Tode zu gewinnen“, trägt er als sein Credo in die Schulchronik ein. Der Rektor ist Mitglied des Pfarrgemeinderates von St. Marien. „Glaube, Sitte und Heimat“ lautet das Motto der ersten von ihm durchgeführten Entlassung der Abschlussschüler. Die Schule ist dem städtischen Brauchtum eng verbunden. Ein Beispiel: Als die Kempener Schützenvereine am 21. Juni 1965 ihr Schützenfest mit großer Königsparade feiern, haben die Schüler frei.
Aber die Zeiten ändern sich. Symbol der modernen Zeit ist das Fernsehen, mittlerweile ein Massenmagnet. Einerseits strahlt es landesweit wichtige Veranstaltungen aus – wie den Kempener St. Martinszug. Der zieht am 10. November 1959 zum 75. Mal. Dazu bringt das Regionalmagazin „Hier und Heute“, ein beliebtes Reportage-Programm von 1957 bis 1993, einen Zehn-Minuten-Beitrag. Darin kommen auch die 5. und 7. Klasse der Knabenvolksschule vor, denn der Martinsverein hat sie „für Fackelbau, Gesang und Ordnung während des Zuges“ prämiert. Andererseits hält das Fernsehen die Menschen von wichtigen Veranstaltungen ab. So führt die Schule auf Anordnung des Kultusministers am 17. Januar 1968 einen Elternabend durch zum Thema: „Sexualverbrechen an Kindern und Jugendlichen“. Aber da läuft gerade der Francis-Durbridge-Krimi „Harry Brent“, und die Eltern bleiben lieber zu Hause. In einer Klasse sind nur drei, in einer anderen nur sechs erschienen.
Moderne Zeiten auch beim Schulmobiliar: Nach den Weihnachtsferien 1960 beginnt der Austausch der alten, verschrammten Holzbänke durch Tische und Stühle. Im Mai 1963 ist die Aktion abgeschlossen. Moderne Zeiten auch in der Pädagogik. Ab Juni 1961 werden Klassenfahrten durchgeführt; ab 1963 lädt die Schule ihre Abschlussklassen vor der Entlassung zu Einkehr- oder Besinnungstagen ein. Ebenfalls 1963 fährt erstmals eine Klasse 8 unter Lehrer Walter Schenk zum Zeltlager ins ostfriesische Bensersiel. 1966 wird dann die 9. Klasse eingeführt, gleichzeitig der Schuljahresbeginn auf die Zeit nach den Sommerferien verlegt. Um die Änderung organisatorisch in den Griff zu kriegen, legt man in ganz Nordrhein-Westfalen zwei Kurzschuljahre ein: vom 20. April bis zum 30. November 1966, vom 1. Dezember 1966 bis zum 31. Juli 1967. Mit dem Beginn des zweiten Kurzschuljahrs richtet die Schule im Keller einen Werkraum für Holz-, Metall- und Tonarbeiten her.
1968 vollzieht sich schließlich eine Reform des Volksschulwesens. In Nordrhein-Westfalen wird die Volksschule aufgelöst, ihre ersten vier Klassen bilden nun eine „Grundschule“, die Klassen fünf bis neun eine „Hauptschule“. Geistiger Vater der neuen Schulform ist Fritz Holthoff (SPD), NRW-Kultusminister seit 1966. Mit der Gründung der Hauptschule soll das Bildungsniveau gehoben, sollen die individuellen Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder verbessert werden – unter anderem durch das durchgängige Erlernen einer Fremdsprache, in der Regel Englisch. Es geht darum, die Schüler fit zu machen für das Ausüben eines Berufs. Deshalb ist der Unterricht stark praxisbezogen. Als neues Fach wird Arbeitslehre eingeführt, unterteilt in Technik, Wirtschaft und Hauswirtschaft.
Die Gründung einer Hauptschule hat sich in Kempen bereits vor zwei Jahren abgezeichnet. Zum 1. Dezember 1966 ist die Klixdorfer Schule auf die ersten vier Klassen reduziert worden. Die Fünfer bis Neuner sind auf die Knabenvolksschule in Kempen gewechselt. Am 9. August 1968 nimmt die neue Kempener Hauptschule im Gebäude der bisherigen Knabenvolksschule ihren Unterrichtsbetrieb auf. Ihr Leiter ist der bisherige Knabenvolksschul-Chef Anton Hitpaß. Die Hauptschule ist eine Gemeinschaftsschule – gegen den Willen der Elternmehrheit, die sich für die Errichtung einer katholischen Hauptschule stark gemacht hat. Das hat die Stadt abgelehnt, denn dann wäre die gesetzlich vorgeschriebene Gemeinschaftshauptschule, die mindestens zwei Klassenzüge aufweisen muss, nicht möglich gewesen.
Die Kempener Schullandschaft ändert sich total: Aus der evangelischen Volksschule an der Fröbelstraße wird zunächst eine evangelische Grundschule, die 1972 in die „Gemeinschaftsgrundschule Fröbelstraße“ umgewandelt wird. Im Neubau der Mädchenvolksschule an der Wiesenstraße, der am 23. Mai 1960 eingeweiht und 1964 erweitert worden ist, kommen jetzt je eine katholische Grundschule für Mädchen und für Jungen unter. Die Sonderschule bleibt wie bisher an der Wiesenstraße. Auch in St. Hubert wird eine Hauptschule eingerichtet; sie wird aber wegen mangelnder Schülerzahlen am 1. August 1990 aufgelöst und der Hauptschule in Kempen angegliedert.
Der Start der neuen Hauptschule in Kempen gestaltet sich zunächst schwierig. Am ersten Schultag stehen 650 Schüler mit ihren Eltern erwartungsvoll auf dem Hof. Aber jetzt erst, zum Schuljahresbeginn, liegen dem Schulleiter die Namen der neuen Lehrer vollständig vor. Die Einteilung in Klassen kann also erst am nächsten Tag erfolgen, ebenso die Aufstellung eines Stundenplans. So werden die Schüler bis zur großen Pause notdürftig beschäftigt, dann endet zu ihrer Freude der erste Schultag. Am dritten Tag beginnt schließlich der reguläre Unterricht.
Gleich zu Beginn zeigt sich: Das 1929 errichtete Gebäude mit seinen 16 Klassenräumen ist für den aktuellen Schülerandrang zu klein. Vor allem, weil hier zusätzlich zur Hauptschule noch zwei Klassen der Sonderschule und eine der katholischen Mädchengrundschule Platz finden müssen. 1960 waren im Altbau 483 Schüler untergebracht, 1966 waren’s schon 565, jetzt muss er an die 720 beherbergen. Zudem sind zusätzliche Fachräume nötig, weil dem neuen Konzept entsprechend Leistungsstufen für Mathematik, Englisch und Rechtschreibung gebildet werden. Fazit: Die Schule platzt aus allen Nähten, 1970 beispielsweise müssen die drei Fünfer-Klassen in der evangelischen Grundschule unterkommen. Der Verwaltungsaufwand für die zahlreiche Schülerschaft und für die Anforderungen der neuen Schulform ist mittlerweile so groß, dass im Dezember 1968 eine Schulsekretärin eingestellt wird: Frau Drießen. Sie kommt zunächst nur zweimal die Woche und erledigt einen Großteil der Arbeit zu Hause.
Im Sommer 1966, als die Platzprobleme sich abzeichneten, hat das Bauamt mit den Planungen für einen Erweiterungsbau begonnen. Im Dezember 1969 erfolgt der erste Spatenstich, und am 11. November 1971 beziehen die 16 Klassen, aus denen die Schule jetzt besteht, das neue Haus. Zusätzlich zu den normalen Klassenzimmern bietet es Werk- und Technikräume, einen Physik- und einen Chemieraum und ein Fotolabor. Am 30. November ist auch die Schulküche so weit fertig, dass endlich wieder Hauswirtschaftsunterricht erteilt werden kann. In den fertig gestellten Neubau ist die komplette Schule umgezogen, damit der sanierungsbedürftige Altbau für Umbau und Renovierung gänzlich geräumt werden kann. Kurz bevor die Arbeiten dafür einsetzen, wird noch schnell die Mineraliensammlung aus den Schaukästen am ehemaligen Eingang gerettet. Dabei kommt ein Mammutzahn zum Vorschein, aber auch Suppenkellen aus der Schulspeisung der Nachkriegszeit. Freilich: Für die gesamte Schülerschaft, die jetzt in ihm unterkommen muss, ist der Neubau nicht geplant. Solange er als Ausweichquartier für den Altbau dient, herrscht drangvolle Enge. Im Werkraum sitzen nun 60 Schüler, teilweise auf den Fensterbänken, und rechnen in den auf ihrem Schoß liegenden Heften. Sieben Monate dauert das Provisorium. Dann, zu Beginn des Schuljahres 1972/73, kann der Altbau wieder benutzt werden.
Nun ist Platz genug, um das 10. Schuljahr einzuführen. Es besteht aus 30 Schülern, die aus Kempen, St. Hubert, Tönisberg und Hüls kommen und auf der Kempener Hauptschule zum Erwerb der Fachoberschulreife geführt werden sollen. Für die Hauptschule ist die Aufbauphase vorbei, jetzt kann sie sich in angemessener Form ihrem inneren Leben widmen. Für Freitag, 4. Juni 1976, hat die SV, die Schülermitverwaltung, die Lehrer zu einem Fußballspiel herausgefordert. Das Ergebnis ist vorauszusehen. In der Schulchronik vermerkt Rektor Hitpaß: „Die eindeutig bessere Kondition der Schülermannschaft, die etwas eigenwillige Auslegung der Abseitsregeln durch den Schiedsrichter Bernd Schmitter (9. Schuljahr) und die lautstarke Unterstützung der Schülermannschaft durch ein Publikum, das ganz auf der Seite der Schüler stand, trugen zu einem 4:1-Sieg der Schülermannschaft bei.“