Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Kaarst Warum Demokratie kein Selbstläufer ist
Kaarst · Beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit im Kaarster Rathaus gab es historische Rückblicke, aber auch Einordnungen in die aktuelle politische Lage. Über allem stand das Bekenntnis zur Demokratie.
Dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und mächtige Gegner hat, machte Claudia Weber anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschen Einheit im Atrium des Kaarster Rathauses deutlich. „Umso mehr muss sie wieder von uns gemacht werden“, betonte sie. Die Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder bezeichnete sich selbst als Zeitzeugin der Wiedervereinigung, die in der ehemaligen DDR aufwuchs. Ihr Vortrag mit dem Thema „Das 20. Jahrhundert und der Blick auf die deutsche Wiedervereinigung durch die Linse der deutsch-russischen Beziehungen“ bot nicht nur einen spannenden Rückblick, sondern auch eine erschreckende Aktualität angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.
Webers Zeitbogen spannte sich ausgehend vom Jahr 1917 mit Lenin und seinem Verhältnis zum Deutschen Kaiserreich und zur Weimarer Republik bis hin zum Hitler-Stalin-Pakt 1939. Sie beleuchtete anhand zahlreicher, mit Bildern unterlegter Fakten das ambivalente deutsch-russische Verhältnis mit unheilvollen militärischen und wirtschaftlichen Verbindungen: ein „verhängnisvoller Teufelspakt“ – man unterstützte sich, ohne sich zu mögen. Im Kern ging es dabei immer um Demokratie versus Diktatur: „Das bestimmte das gesamte 20. Jahrhundert und unsere Gegenwart“, so die Historikerin.
Die deutsche Wiedervereinigung brachte den „Teufelspakt“ scheinbar zu Ende: Die 90er Jahre mit Gorbatschow an der Spitze der Sowjetunion gelten durch die Zusammenarbeit für ein gemeinsames Europa als „hoffnungsvolle Ära“, sagte Weber. Aber eben nicht für alle. Erlebte Deutschland die Wiedervereinigung als eine Erfolgsgeschichte durch die Verbindung aus Demokratie, Wohlstand und Ordnung, so empfand die Sowjetunion sie als eine Geschichte des Niedergangs. Chaos und Korruption der Jahre unter Boris Jelzin: Das verbinden viele Russen mit Demokratie. Nun habe Putin Europa und dem Westen den Krieg erklärt, widersprüchliches Erbe wie etwa bei der Abhängigkeit der Deutschen von der russischen Gaszufuhr spiegele das komplizierte Verhältnis. Für die Zukunft setzt Weber auf die Gestaltungskraft der Demokratie, die trotz aller Krisen, Fehler und Missstände gewaltige Wirkungsmacht entfalte.
Als im Anschluss an den Vortrag der Song „Wish you were here“ (Pink Floyd) von Künstlern der Musikschule Mark Koll beeindruckend interpretiert wurde, war das mehr als passend. Die musikalische Gestaltung war in diesem Jahr ohnehin ein Ohrenschmaus. Dazu zählten Auszüge aus „The Wall“ (Floyd) und die klassischen Stücke der Jungen Sinfonie Kaarst unter Leitung von Christian Dellacher. Sie erinnerte mit der „Elisabeth-Serenade“ von Ronald Binge an die kürzlich verstorbene englische Königin Elisabeth II. Alle Musiker wurden erst nach einer Zugabe entlassen.
Bürgermeisterin Ursula Baum freute sich darüber, dass nach es nach drei Jahren wieder eine „große offizielle Veranstaltung“ im Kaarster Rathaus mit einem eindeutigen Bekenntnis zur Demokratie gab. Dabei wäre das schon im vergangenen Jahr möglich gewesen – für 2021 sagte Baum den Festakt aber ab. Nun kehrte er per Ratsbeschluss zurück. Er kippte Baums Plan von einem Fest „Wir sind Kaarst – vielfältig und bunt“, das stattdessen gefeiert werden sollte.