Kaarst Flüchtlingskrise als Chance begreifen

Kaarst · Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler referierte im Rahmen der Reihe "Dialog Zukunft - wie wollen wir leben" in der Rathausgalerie. Er griff Gedanken aus seinem Buch "Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft" auf.

Die Flüchtlingskrise ist nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen zu bewältigen, sie birgt auch jede Menge Möglichkeiten für Deutschland. So sieht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler die derzeitige Situation im Land. Die Gedanken dazu - unter anderem aus seinem Buch "Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft", das er gemeinsam mit seiner Frau, der Kulturwissenschaftlerin Marina Münkler (56), schrieb - hat er in der Reihe "Dialog Zukunft - wie wollen wir leben" der VHS diskutiert. Auch mit Lothar Schröder, dem Kulturchef unserer Zeitung, der den Abend in der Rathausgalerie moderierte. Zunächst stand ihm Bürgermeisterin Ulrike Nienhaus zum Thema "Flüchtlinge" Rede und Antwort. Sie erzählte, dass in Kaarst Menschen aus 48 Ländern leben, dass sich viele Menschen um die Flüchtlinge kümmern und dass das Merkel-Zitat "Wir schaffen das" auch und besonders für Kaarst gilt.

Herfried Münkler, der sich stets an Fakten und selten an Stimmungen orientiert, ist an der "Entdramatisierung" der Debatte gelegen. Er nahm die Kanzlerin in Schutz: "Sie hat die Grenzen in der Nacht vom 4. auf den 5. September nicht geöffnet, die waren nämlich offen. Sie hat nur das Schengener Abkommen nicht außer Kraft gesetzt." Münkler beschrieb, was geschehen wäre, wenn sie es getan hätte: Dann wären viele Flüchtlinge gleich in Bosnien-Herzegowina oder in Griechenland geblieben - was diesen ohnehin fragilen Raum aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Der Plan der Kanzlerin sei es gewesen, Deutschland zu einer Art Überlaufbecken zu machen, um Zeit zu gewinnen, die Außengrenzen zu sichern und die Flüchtlinge auf andere EU-Staaten zu verteilen. Letzteres sei aber nicht gelungen.

Herfried Münkler kritisierte an der Bundesregierung, dass sie die Aufnahme der Flüchtlinge einzig als humanitäre Leistung kommuniziert habe. Die Botschaft an die Flüchtlinge aber könne so lauten: "Wir können euch nicht unmittelbar ins Arbeitsleben integrieren, aber wir können euch gebrauchen." Jetzt gehe es darum, ihnen Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie am Arbeitsmarkt bestehen können, denn: "Integration funktioniert nur über Arbeit". Münkler warnte davor, Flüchtlinge zu lange ohne Beschäftigung zu lassen. Abschreckendes Beispiel sei Schweden: "Hier waren Flüchtlinge überversorgt, gewöhnten sich schnell ans Nichtstun." In Frankreich sei die Integration ebenfalls nicht geglückt, und die Niederländer seien zwar die Erfinder von "Multikulti", funktionieren tue es dennoch nicht.

Herfried Münkler denkt pragmatisch, empfahl auch Sprachangebote für Flüchtlinge mit theoretisch schlechter Bleibeperspektive und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Prozess der Integration. Später sei darauf zu achten, dass die hoch qualifizierten Flüchtlinge nicht in ein anderes Land gehen. Fundamentalismus sei kein Spezifikum des Islam. Der Referent machte darauf aufmerksam, dass Täter wie Anis Amri oft gescheiterte Kleinkriminelle seien - es gelte zu verhindern, dass sie sich in die Abgrenzung flüchteten. Dass die Flüchtlingskrise auch gute Seiten hat, steht für ihn außer Frage: "Gesellschaften, die solche Herausforderungen nicht haben, verholzen, werden unlebendig."

(NGZ)
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