Jüchen Erinnerung an die alte evangelische Schule

Jüchen · Jürgen Kiltz hat die Chronik der Gierather Volksschule durchforstet. Sein Buch gibt auch Einblicke in das Leben im Dorf.

 1935 machten die Lehrer einen Fortbildungs-Kursus in Modellbau. Lehrer Emil Haeyn (vorne links) aus Gierath war auch unter den Teilnehmern.

1935 machten die Lehrer einen Fortbildungs-Kursus in Modellbau. Lehrer Emil Haeyn (vorne links) aus Gierath war auch unter den Teilnehmern.

Foto: Aus der Chronik der evangelsichen Volksschule Gierath

Geduldig hat sich Jürgen Kiltz durch zwei dicke Bände der alten Gierather Schulchronik gequält und die Sütterlin-Schrift enträtselt. Doch die Mühe hat sich gelohnt. Hinter dem spröden Titel "Chronik der evangelischen Volksschule Gierath von 1872 bis 1968" verbirgt sich nicht nur eine geschichtliche Datendokumentation, die Kiltz in Kooperation mit dem Gemeindearchiv auf 360 Seiten mit vielen Abbildungen erstellt hat. Das Buch gibt in Teilen auch Einblicke ins Dorfleben, vor allem in die unterschiedlichen Blickwinkel von Protestanten und Katholiken, die teilweise auch zum Schmunzeln Anlass bieten.

 Bei der Einschulung im April 1961 tragen die Mädchen noch brav Schleifen in den Haaren und der einzige Junge einen Anzug.

Bei der Einschulung im April 1961 tragen die Mädchen noch brav Schleifen in den Haaren und der einzige Junge einen Anzug.

Foto: Repro

Da brechen im Jahr 1897 die Masern epidemieartig auch in Gierath aus. Und der evangelische Dorflehrer hält für Gierath, Gubberath und Herberath in der Schreibweise der noch von den Franzosen beeinflussten Zeit fest: "Die Masern traten completement nach den Confessionen verschieden auf. Untersteht der menschliche Organismus auch dem Culturkampf?", sinniert Lehrer Hubert Schroer, um dann in seiner Chronik aufzuführen: "Im September mussten für die beiden katholischen Schulklassen wegen der überhandnehmenden Masern die Herbstferien (schon) beginnen." Doch "seine" Schule, die evangelische, blieb schließlich auch von den Masern nicht verschont: "In den letzten Tagen des Oktobers fehlten 39,3 Prozent, im November 50, an einigen Tagen 75 Prozent", notiert der Lehrer.

 1962 bei der Schulentlassung in Gierath; Die Mädchen haben sich teilweise die Haare modisch hochtoupiert.

1962 bei der Schulentlassung in Gierath; Die Mädchen haben sich teilweise die Haare modisch hochtoupiert.

Foto: Repro

Nun besuchten die evangelische Schule bis zum Zweiten Weltkrieg gerade mal 20 Kinder durchschnittlich die Klassen eins bis acht, die alle in einem Raum unterrichtet wurden. Nach dem Krieg kamen die Kinder der evangelischen Flüchtlinge aus dem Osten hinzu. Und die "Zwergschule" hatte immerhin durchschnittlich 40 Schüler.

Jürgen Kiltz, der bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2013 selbst Lehrer, zuletzt an einem Gymnasium in Neuss war, arbeitet in seiner Schulchronik auch heraus, wie bildungsorientiert die zumeist einfachen evangelischen Bauern in Gierath waren, was die Ausbildung ihrer Kinder anbelangte. Denn die Eltern bauten nicht nur das Schulgebäude aus eigenen Mitteln auf, sie zahlten auch die ersten Jahre das Gehalt für die Lehrer, die über dem Klassenraum in der Schule wohnten. Egal, ob für ihre Söhne, oder für die Töchter, die Gierather und Gubberather Protestanten wollten für ihre Kinder eine gute Ausbildung im Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Besonderheit würdigt auch Pfarrer Horst Porkolab von der Jüchener Hofkirche, der das Vorwort zu der Chronik geschrieben hat.

Ihrer Zeit voraus waren auch zumindest einige der Lehrer der alten Gierather Konfessionsschule, die im Jahr 1969 staatlich wurde. Sie zog dann vom Herberather Weg in den Neubau an die Schulstraße um. Da schreibt etwa Dorfschullehrer Hubert Schroer im Jahre 1875 über einen Schüler, der für ihn "ein psychologisches Rätsel" sei. Der Junge unternehme immer mal wieder "Luftreisen", indem er auch über Nacht zu Jahrmärkten in der Umgebung verschwinde. Und der Lehrer gelangt zu der Einschätzung, der Heranwachsende werde daheim geschlagen und müsse manchmal sogar hungern. Er rät auch von der Einweisung in eine Besserungsanstalt ab, die die Familie offenbar beabsichtigt.

Lehrer Schroer schreibt stattdessen: "Der Knabe macht zwar geringe Fortschritte im Unterricht, ist sonst aber freundlich und willig zu jeder Schularbeit. Nach meiner Überzeugung fehlt es dem unehelichen Knaben an liebevoller Behandlung. Verhärtet ist sein Gemüth nicht, denn bei einem ernsten Wort rinnen bittere Tränen." Er halte das Betragen des Jungen, der nicht in eine Besserungsanstalt gehöre, eher für "eine sonderbare Krankheit". Offen war die evangelische Volksschule auch für jüdische Kinder, wie es Jürgen Kiltz in seinem Buch dokumentiert. Da lässt der Lehrer zum Beispiel bei der Feier seines Dienstjubiläums "die Elterngabe der jüdischen Schülerin Karoline Levenbach", eine "prächtige Tasse und eine gute Pfeife" sowie eine Schnupftabakdose, während der Feier "fleißig kreisen". Und zum Gelingen dieser Feier im Jahre 1889 trägt auch die "in gebundener Rede abgefasste Darbietung einer früheren Schülerin, der Jüdin Leib zu Hagen bei", heißt es in der Schulchronik, die dann aber später in den 1930er Jahren ganz andere politische Töne hätte anschlagen können.

Doch die, wenn es sie denn gab, sind in der Dokumentation nicht enthalten, die ohnehin 1939 aussetzt, um erst 1950 wieder aufgenommen zu werden. Lediglich im März 1933 trägt Lehrer Emil Haeyn nach der sogenannten Machtergreifung von Adolf Hitler in die Schulchronik ein: "Damit ist Deutschland wieder zu einem Machtfaktor geworden, mit dem die übrige Welt nicht mehr tun und lassen kann, was sie will." Doch im Anhang beleuchtet Jürgen Kiltz ausführlich die "braunen Jahre" mit ihren Auswirkungen auf das Dörfchen Gierath.

(NGZ)
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