Jüchen Aus Gastarbeitern wurden Mitbürger

Jüchen · Das Schicksal der türkischen Familie Alma ist exemplarisch für viele Türkisch-Stämmige, die in der dritten Generation in Hochneukirch leben. Serin Alma stellt dazu eine Foto-Chronik aus, türkische Zeitzeugen berichten über ihre Integration.

 Serin Alma mit den Familien-Pässen, wie auch dem ersten "Migrationspass" ihrer Mutter Nazife (vorne), und einem "Gastarbeiter-Koffer".

Serin Alma mit den Familien-Pässen, wie auch dem ersten "Migrationspass" ihrer Mutter Nazife (vorne), und einem "Gastarbeiter-Koffer".

Foto: Gundhild Tillmanns

Die Gemeinde Jüchen, die nächstes Jahr zur Stadt wird, strebt ein Wachstum der Bevölkerung an. Zu den Neubürgern gehören auch Flüchtlinge: 337 aus mehr als zehn Nationen sind es aktuell. Zu einem friedvollen, toleranten und demokratischen Miteinander soll jetzt auch eine dreiteilige Veranstaltungsreihe beitragen, die vom Landesfamilienministerium als "Projekt zur Radikalisierungsprävention und Demokratieförderung" gefördert wird. Die türkischen "Gastarbeiter" waren in den 1970er Jahren die ersten Fremden, die vor allem in Jüchen-Hochneukirch ansässig wurden und deren Familien heute längst in die deutsche Gesellschaft integriert sind. Wie schwer die Anfänge waren, das verdeutlicht Serin Alma, Vorsitzende des Türkisch Deutschen Freundeskreises (TDF), in der Veranstaltungsreihe mit einer Fotoausstellung und mit Zeitzeugenberichten.

 Nazife Alma arbeitete in einer Textilfabrik in Hochneukirch.

Nazife Alma arbeitete in einer Textilfabrik in Hochneukirch.

Foto: gt

Sind es heute polnische Familienmütter, die aus finanzieller Not in ihrer Heimat nach Deutschland kommen, um alte Menschen zu pflegen, so fasste Serin Almas Mutter Nazife als eine der ersten Gastarbeiterinnen in Hochneukirch den Mut, ihre sieben Kinder und den Ehemann zunächst zurückzulassen. Sechs Wochen jung war das jüngste Kind. Die älteste Tochter betreute die Geschwister, bis die Familie zwei Jahre später endlich in Hochneukirch wieder vereint war. Bis dahin hatte die Mutter Unglaubliches geleistet, wie sich Serin Alma erinnert, die bei der Migration elf Jahre alt war. Mutter Nazife hatte vor der Ausreise erst lesen und schreiben lernen müssen. Deutsch zu lernen, das kam in der Fremde noch hinzu, wo sie zunächst in einem Frauenheim lebte. Sie sparte so viel sie konnte von ihrem Lohn in einer Textilfabrik, um die Familie nachholen zu können, vor allem aber, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Serin Alma spricht voller Respekt über ihre heute 80-jährige Mutter, die auf ihre Art immer schon so fortschrittlich und weltoffen gewesen sei. "Es liegt sehr an den Eltern, ob die Integration funktioniert und dass sie ihre Kinder in die Schule schicken", beobachtet Alma, die ehrenamtlich auch wegen ihrer Arabischkenntnisse viele Migrantenfamilien betreut.

 Aus der Türkei grüßen die Mutter und Ehefrau: Familienvater Alma mit den sieben Kindern, Serin steht vor ihm. Das jüngste Kind ist sechs Wochen jung.

Aus der Türkei grüßen die Mutter und Ehefrau: Familienvater Alma mit den sieben Kindern, Serin steht vor ihm. Das jüngste Kind ist sechs Wochen jung.

Foto: gt

Alle der Kinder von Nazife Alma - das achte kam in Deutschland zur Welt - haben, teilweise so wie Serin im Gesundheitswesen, Karrieren gemacht. Mittlerweile lebt mit Serins Enkelin die dritte Generation der türkisch-stämmigen ehemaligen Gastarbeiter in Hochneukirch. Ihre Foto-Chronik hat sie daher auch so betitelt: "Vorgestern Gastarbeiter, gestern Immigranten, heute Mitbürger". Um Mitbürger zu werden, haben die Almas, auch unterstützt durch die Pfarrgemeinde vor Ort, immer wieder exemplarisch für viele andere Gastarbeiterfamilien ihre eigenen kleinen "Revolutionen" gestemmt: Ein Alma-Mächen war die erste Türkin, die in Hochneukirch den Führerschein machte, eine andere Schwester gehörte zu den ersten türkischen Abiturienten. Serin Alma war die letzte Tochter der Familie, die mit 15 Jahren noch verheiratet wurde. Eine Nichte ist als erstes Familienmitglied nicht in der Türkei, sondern in Hochneukirch begraben worden. Und Mutter Nazife legte auf Wunsch des Vaters in Deutschland das Kopftuch ab, blieb aber gläubig: "Ich hatte ein sehr liebevolles Zuhause, meine Mutter hat immer gesagt, dass Gott für alle Menschen da ist", sagt Alma.

(NGZ)
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