Rückblende: Hückeswagen vor 100 Jahren Klammheimliche Suche in den Zügen nach Deserteuren

Hückeswagen · Blick zurück in den August 1918: Die Reichsbahn verlangt von Zugreisenden einen Persönlichkeitsnachweis. Auch Hückeswagener waren zum Ende des Ersten Weltkriegs davon betroffen.

 Das ehemalige Hückeswagener Bahnhofsgebäude. An seiner Stelle steht das GBS-Haus mit dem Bürgerbüro.

Das ehemalige Hückeswagener Bahnhofsgebäude. An seiner Stelle steht das GBS-Haus mit dem Bürgerbüro.

Foto: Hans Dörner

Auf einen US-amerikanischen Politiker der Republikaner, Hiram Johnson aus Kalifornien (1866-1945), geht der Satz zurück: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“ 1918 war der Erste Weltkrieg bereits in seinem vierten Jahr, und die Wahrheit lag derweil zigtausendmal auf den Soldatenfriedhöfen rund um Verdun und nicht etwa in den Artikeln der Bergischen Volkszeitung. Die war zu dieser Zeit mit Propaganda und Durchhalteparolen durchsetzt. Darin erfuhren die Leser aus Hückeswagen im August 1918 zur Einleitung: „Die von den Militärbefehlshabern (…) zum Schutze der militärischen Maßnahmen gegen die Betätigung feindlicher Agenten eingerichteten Eisenbahnüberwachungsreisen haben sich für die Sicherheit des Reiches als förderlich erwiesen.“ Aus diesem Grunde appellierte nun der Verfasser des Artikels, dass man die „verantwortungsvolle Aufgabe der Eisenbahnüberwachungsreisenden“ auch in Hückeswagen bei Zugreisen dahingehend unterstützen könnte, Papiere mitzunehmen, die über die eigene Persönlichkeit Aufschluss gäben. Als Vorschlag hatte er in Petto: Schulzeugnisse, Steuerquittungen oder Radfahrkarten. Die Vorlage eines Passes von deutschen Reisenden hingegen, so die damalige allgemeine Rechtsauffassung, konnte nicht verlangt werden, worauf die Zeitung auch hinwies.

Diese „Eisenbahnüberwachungsreisenden“ gab es tatsächlich. Das Besondere an ihnen war, dass sie nicht an einer Uniform zu erkennen, sondern in Zivil unterwegs waren. Buchautor Christoph Jahr, international anerkannter Experte für den Ersten Weltkrieg, weist in seiner Dissertation aus dem Jahr 1998 das Wirken dieser Spezialkräfte ab 1915 nach. Ab dem Frühjahr 1918 häuften sich dann die Erlasse zum Thema „Ausweispflicht von Reisenden“.

Doch der Grund für diese Maßnahmen waren mitnichten die „feindlichen Agenten“, die möglicherweise in Deutschland umher reisten. Jahr erläutert: „Es war eine konstante Sorge der Militärbehörden, dass die Soldaten die oft unübersichtlichen Verhältnisse des Frontbereichs und der Etappe zum Untertauchen nutzen könnten.“ Mit anderen Worten: Die „Eisenbahnüberwachungsreisenden“ waren nicht auf der Suche nach Agenten, sondern nach Deserteuren. Und in diesem Zusammenhang standen die Bahnlinien im Mittelpunkt ihres Interesses.

Ob der Artikelverfasser der Bergischen Volkszeitung zwangsweise oder aus Unwissen die falschen Motive für die Kontrollen genannt hat, ist unklar. Die Leser erfahren aber noch etwas über die polizeiartigen Befugnisse der Überwacher. Die waren nämlich berechtigt, Reisende so lange an der Weiterfahrt zu hindern, bis die Persönlichkeit einwandfrei festgestellt war. Passagiere konnten also auch am Bahnhof in Hückeswagen ohne Weiteres aus dem Zug geholt werden.
NORBERT BANGERT

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