Von Chemnitz nach Ratheim Hochzeitsreise im Interzonenzug

Ratheim · Hans-Georg und Renate Lippert aus Chemnitz sind seit mehr als 50 Jahren in Ratheim zu Hause. Gemeinsam erinnern sie sich an die Zeit vor und nach der Wende.

 Renate und Hans-Georg Lippert schwelgen beim Blick in alte Fotobücher in Erinnerungen an die Zeiten vor und nach der Wende.

Renate und Hans-Georg Lippert schwelgen beim Blick in alte Fotobücher in Erinnerungen an die Zeiten vor und nach der Wende.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

„Das tritt... nach meiner Kenntnis ist das... sofort... unverzüglich“, stammelt Politbüro-Mitglied Günter Schabowski unsicher. Die Sperrfrist bei der neuen Reiseregelung hat der SED-Politiker schlichtweg übersehen. Und dann ist plötzlich die Mauer offen. Ungläubig verfolgen Renate und Hans-Georg Lippert zu Hause in Ratheim das Geschehen auf dem Bildschirm ihres Fernsehers. „Wir waren platt“, erinnert sich der 85-Jährige. Er erinnert sich noch gut an „die Euphorie der Menschen, die über die verhasste Grenze gen Westen strebten, vorbei an verdutzten, bisher strengen und abweisenden Volkspolizisten“. Das Ratheimer Ehepaar, vielen bekannt durch sein ehrenamtliches Engagement für den Eine-Welt-Laden in der Hückelhovener Haagstraße und aus dem Ortsverband der Grünen, stammt aus der Nähe von Chemnitz.

Rückblende: Am Silvesterabend des Jahres 1957 fragt der damals 22-jährige Hans-Georg Lippert die 20-jährige Renate beim großen Silvesterball im Forsthaus, ob sie mit ihm tanzen möchte. Das junge Mädchen, deren Mutter einen Gasthof betreibt, gefällt ihm. „Vielleicht im nächsten Jahr“, antwortet die hübsche Wirtstochter verlegen. Ein Jahr lang schreiben sie sich regelmäßig Briefe. Chemnitz heißt schon Karl-Marx-Stadt. Das Zentralkomitee (ZK) der SED und die DDR-Regierung haben am 10. Mai 1953 diesen Beschluss gefasst. Hans-Georg Lippert ist bereits 1947 mit seiner Familie in den Westen gegangen, ins Weserbergland. „Chemnitz wurde im Krieg zerbombt, mein Vater war zunächst in britischer Kriegsgefangenschaft“, erinnert er sich.

Neuanfang mit Mutter und Oma. „Ich war der Flüchtlingsjunge, aber ich hatte einen Fußball.“ Kontakt zu halten zur Brieffreundin im Osten war alles andere als einfach. „Telefongespräche mussten angemeldet werden“, berichtet Renate Lippert. Erst Stunden später kam der ersehnte Rückruf vom „Fräulein vom Amt“, das die Verbindung herstellte. Es folgten aufregende Fahrten im Interzonenzug, bürokratische Anträge für eine Besuchserlaubnis. Weihnachten 1957 wurde geheiratet. Im Osten. „Viele gingen damals weg. Es herrschte Aufbruchstimmung, junge Menschen waren neugierig“, erzählt Renate Lippert, die als gelernte Bankkauffrau später bei einem Unternehmen in Myhl eine Anstellung als Buchhalterin fand und sogar Lehrlinge ausbilden durfte.

„Warum wollen Sie weg?“ wurde sie gefragt, als sie den Ausreiseantrag gestellt hatte. „Sie haben hier doch alles. Ihre Arbeit, ihre Eltern.“ Sie antwortete: „Ich werde heiraten. Mein Freund ist Bergmann im Westen.“ Hochzeitsreise in den Westen, wieder im Interzonenzug. Das war in der Zeit vor dem Mauerbau, als die deutsch-deutsche Grenze noch durchlässig war.

Lippert, gelernter Hauer und Bergingenieur, verschlägt es zunächst auf eine Dortmunder Zeche. Die erste eigene möblierte Wohnung in Lünen. Dann weg aus dem Ruhrpott, zu einem Unternehmen, das die neuen Schächte für Sophia-Jacoba abteuft. 1962 der Umzug. Schacht IV und VI als Herzstück der Ratheimer Zentralschachtanlage entstehen.

Auch bei den Lipperts wird gebaut – ein gemütliches Eigenheim am Ohof wird zum zehnten Hochzeitstag fertig. Sohn Ulrich, genannt Uli, der heute in Bonn lebt, wird geboren. Das Jubiläum „30 Jahre Friedliche Revolution“ – für das Ratheimer Paar ein Anlass, sich an die Situation von 1989 zu erinnern. „Die Betriebe waren marode, die Innenstädte verfielen“, zieht Hans-Georg Lippert Bilanz.

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