Rp-Serie Sie Zogen In Die Welt Hinaus - Teil 14 In der Rennsportszene ein Dauerbrenner

Erkelenz · Obwohl der 46-Jährige auf den Rennstrecken der Welt zu Hause ist, fühlt er sich als Hückelhovener. Er war sehr nahe dran an einem Formel-1-Cockpit. Seit 20 Jahren Werksfahrer für BMW. Mit dem M6 GT3 auf der Langstrecke unterwegs - auch in Japan.

 Entdecker Jochen Neubauer, der Allesmacher im Müller-Team, schneidet Werbeaufkleber.

Entdecker Jochen Neubauer, der Allesmacher im Müller-Team, schneidet Werbeaufkleber.

Foto: KURT SIKORA

HÜCKELHOVEN Geboren ist er in Kerkrade/NL, aufgewachsen in Hückelhoven ("Hier komme ich her, hier ist meine Heimat"), Zwischenstationen waren Österreich und Monaco, seit 2012 lebt er in Tägerwilen, auf schweizer Bodenseeseite gegenüber Konstanz, mit der Landshuterin Susanne Kerschreiter. Dass Jörg Müller über diesen "Hauch Europa" hinaus ein präzises Muster der RP-Serie "Sie zogen in die Welt hinaus" ist, hat eindeutig berufliche Gründe, er ist als professioneller Automobilrennfahrer global unterwegs, Werksfahrer für BMW: "Das ist bereits meine 20. Saison mit den Bayern", sagt er nicht ohne Stolz, eilt dann als einer der Ehrengäste von der 100-Jahrfeier der weiß-blauen Motorenschmiede im Münchener Olympiapark zum Flieger nach Japan, wo er die Super-GT-Serie mit dem neuen M6 GT3 fährt. Bei solch einem Flug über mehr als elf Stunden, von denen es pro Saison locker ein Dutzend wegen Abstimmungsarbeiten, Training, Rennen und Marketingaufgaben gibt, bietet sich Gelegenheit, einen Blick zurück ereignisreiche und hochinteressante Lebensjahre zu werfen.

Die Augen dazu schlug er am 3. September 1969 in Kerkrade auf, weil es die Eltern von Aachen über die Grenze nach Holland gezogen hatte, "wo mein Papa Pächter einer Kartbahn in Vaals war". Erinnerung daran hat er nicht, er war einjährig, da verschlug es die Familie nach Hückelhoven, um das Fahrradgeschäft Kinkartz an der Parkhofstraße zu übernehmen. Gleich gerät Jörg Müller ins Schwärmen: "In Hückelhoven habe ich mit meinen Geschwistern Marion (48) und Rainer (45) die wohl schönste Kindheit gehabt, die man sich nur vorstellen kann." Bei den Müllers wurden Werte gelebt, pünktliches Mittag- und Abendessen mit allen Familienmitgliedern erlaubte selten Ausnahmen: "Weil meine Mutter Bärbel eine sensationelle Köchin ist und wir uns über die Geschehnisse des Tages unterhalten wollten." Pikantes Thema war dabei Jörgs vorzeitige Entlassung aus dem Kindergarten St. Barbara, "weil ich ein bisschen chaotisch war". Nachhaltig der Besuch der Grundschule Dienstühlerstraße: "Weil unsere tolle Klassenlehrerin Ursula Röhrig an einem 29. Februar geboren ist und deshalb nur alle vier Jahre Geburtstag hatte." Auch die Zeit in der Realschule Ratheim ist geprägt durch eine Lehrerin: "Sibille Habbinga war einfach nur sensationell. Das war exzellenter Unterricht, der uns auch viele Freiräume ließ." Diese wurden nach der Penne genutzt, um zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Gegend zu erkunden - die Wälder an der Vogelstange, Millich, Schaufenberg oder Doveren, der Verlauf der Rur oder der Kantinenberg: "Ich glaube, ich kenne noch heute jede Straße oder Gasse meiner alten Heimat wie aus dem Effeff, obwohl ich seit 1991 nicht mehr in Hückelhoven wohne." Aber oft bei seinen Eltern, Schwester oder Bruder, der "Motor Müller" betreibt, zu Besuch ist, wenn Nürburgring, Spa, Zolder oder Zandvoort auf dem Programm stehen: "Was mich immer wieder total flasht, ist im Frühling die Blüte der Zierkirschen am Gladbacher Berg, wenn man von der A 46 runter in die Stadt fährt. Dann weiß ich, hier komm' ich her, hier ist Heimat."

Dass die alte Zechenstadt auch im modernen Outfit für Jörg Müller immer "Heimat des Herzens" bleiben wird, liegt wohl daran, das hier seine frühesten Sozialisationserlebnisse stattfanden. Der Übergang in die berufsbedingte Globalisierung erfolgt bei ihm fließend, wenn auch zunächst unbemerkt. Wer als Kind schon immer im elterlichen Betrieb rumgewuselt ist, stets dreckige Finger hat, alles auseinanderbaut, dann aber auch wieder richtig zusammenbauen kann, der will Zweiradmechaniker werden. War der Abschluss der Realschule Ratheim nicht der Beste, war die Gesellenprüfung als Zweiradmechaniker, begleitet durch die Berufsschule Erkelenz, dann aller Ehren wert: Praxis und Theorie jeweils Einser. Das Attest also, nicht nur ein guter Schrauber zu sein, sondern einer mit Hintergrundwissen. Genau passend zu dem Lebensbereich, der schon mit sechs Jahren seinen Anfang nahm. Vater Ewald Müller nahm Jörg mit auf den Raderberg nach Niederkrüchten, damals eine der Topadressen des deutschen Kartrennsports. Ewald Müller, der zu den Pionieren des deutschen Kartsports zählte, fuhr in den 1960/70er Jahren in der deutschen Nationalmannschaft u.a. gegen spätere Formel-1-Rennfahrer wie Ronnie Peterson und Elio de Angelis, war Kart-Europameister, Importeur für Landia-Karts und Vorsitzender des Kart-Clubs Burg Brüggen (KCBB), der auch die sportliche Heimat für die Rennfahrer Heinz-Harald Frentzen, Ellen Lohr, Nick Heidfeld und die bekannte Moerser Rennfahrerfamilie Hahne war. Jörg Müller hatte Top-Material, fuhr zusehends schneller, gewann diverse Titel im ADAC-Gau Nordrhein und sicherte sich sogar Lorbeer auf deutscher "Bühne". Auch als er 1985 mit Wolfgang Penders (heute noch sein bester Freund) und Michael Schaaf Deutscher Junioren-Mannschaftsmeister wurde, hatte sich für den damals 16-Jährigen zwar "ein Traum erfüllt". Er sah es aber eher "nur als Hobby, das ich betreiben kann, bis ich alt bin".

Genau das aber sah ein Freund der Müllers ganz anders, der Hückelhovener Jochen Neubauer (später im Müller-Team der Allesmacher und Ideengeber) hatte den Blick für das Talent und lag Vater Ewald Müller fast schon penetrant im Ohr: "Lass den Jörg doch mal einen Formel Ford testen." Hatte übrigens auch Peter Niestrath empfohlen, ein Rundstreckenspezialist der damaligen Zeit aus Hückelhoven. Die Müllers gönnten sich einen 1300 Mark verschlingenden Testtag bei "Erhard Fritz Racing" auf dem Hockenheimring. War Jörg davon zunächst gar nicht begeistert, hatte er schlagartig Feuer gefangen. Doch es fehlte die Kohle, um sich in ein Team einzumieten. So ist das im Formelsport, da muss man Risiko gehen, zunächst Geld mitbringen. Die günstigste Version: "Mein Daddy kaufte von Ellen Lohr den Formel Ford, mit dem diese 1987 den deutschen Titel geholt hatte, dazu einen alten Hanomag-Lkw von Heinz-Harald Frentzen." Es passte, denn gleich im ersten Jahr 1988 freuten sich Teamchef Ewald Müller, dem man kein X für ein U vormachen konnte, und Pilot Jörg Müller über zwei Siege in der Formel-Ford 1600-Serie - und das mit einem Gebrauchtwagen. Das erfüllte auch die vielen Klein-Sponsoren aus dem Hückelhovener Müller-Umfeld, zum Beispiel der "Hühner-Rabbi", "Eis Teza", oder Hannes Lopacki. Jetzt wurde Groß-Sponsor Marlboro aufmerksam: "Ich sollte 1989 Formel Opel Lotus fahren. Wir haben 1989 aber auch weiter Formel Ford bestritten, und Mitte des Jahres war ich Führender in der Meisterschaft. Doch ich konnte die Saison nicht zu Ende fahren, da sich Formel Ford und Opel Lotus am selben Wochenende wegen verschiedenen Strecken überschnitten. Da ich auch in der Opel Lotus auf Titelkurs fuhr, musste ich mich auf Sponsoren-Druck entscheiden. Ich wurde Opel-Meister. In der FF1600-Meisterschaft bin ich dann noch Dritter geworden." Highlight in diesem Jahr aber war ein Doppelsieg in Hockenheim in der Formel Ford und in der Opel Lotus am gleichen Tag. Da wurde Jörg Müller von über 30 000 Zuschauern gefeiert, als wäre Weltmeister Michael Schumacher gerade ins Motodrom eingelenkt. Mit "Schumi" verbindet Jörg Müller eine lange Motorsportfreundschaft, die aus Kartzeiten herrührt. Es gab auch Rennen in den kleineren Klassen, da stand der acht Monate jüngere Hückelhovener auf P1, der später dann siebenfache Formel-1-Weltmeister "nur" auf P2. Ein gutes Gefühl, auch wenn die Wege der Freunde später in eine ganz andere Richtung führten. Eifelland-Racing hat Jörg Müller 1990 in Spa zum Formel Ford-1600-Europameister gemacht. Das war auch die Zeit, in der er Hückelhoven verließ, nach Bitburg in die Nähe seines Teams und des Nürburgrings zog. Parallel "diente" er in der Sportfördergruppe der Bundeswehr. Der spektakulärste Erfolg war 1991 der Formel-3-Sieg in Monaco, 1993 folgte P1 auch im fernen Macau. Auf dem dortigen Guia Circuit entschied er das Tourenwagenrennen für sich, damit der erste Rennfahrer, dem dies gelungen ist - er hatte den Motorsport-Grand-Slam eingefahren. Und dies, obwohl er nun ohne Sponsor war, sich als Schrauber in einem befreundeten Rennstall über Wasser hielt. Den Überlebenswillen und das Können erkannte der Österreicher Dr. Helmut Marko (ja, der mit Red Bull und Vettel), der ihm ein Cockpit anbot, aus dem heraus 1994 der deutsche Formel 3-Titel erfolgreich angesteuert wurde - elf Siege in 16 Rennen. Eine sensationelle Bilanz auch mehr als 20 Jahre später noch. Nach dem Titelgewinn 1996 in der Formel 3000 (jetzt GP2) wurden Cockpits in der Formel 1 (1997 bei Arrows und 1998 bei Sauber) frei - aber lediglich als Ersatz- oder Testfahrer. "Leider bin ich da kaum ans Fahren gekommen, nie in einem Rennen", bilanziert Müller nüchtern, die Enttäuschung abgehakt. Ist aber stolz, an der Entwicklung des BMW-Formel-1-Motors für Williams mit wohl 15.000 Testkilometern beteiligt gewesen zu sein. Die Verbindung BMW und Müller wurde ein Dauerbrenner: "Ich habe in den letzten 20 Jahren alles fahren dürfen, was die Motorsportabteilung der Münchener auf die Räder gestellt hat." Und Erfolge mit Champagnerduschen gefeiert: 24 h in Spa 1996, 24 Stunden am Nürburgring 2004 und 2010, 12 h von Sebring 1999, American Le Mans Serie 2001, zweimal war der "Hückelhovener Jung" Vizemeister der Tourenwagen-Weltmeisterschaft (WTTC): "Das waren Entscheidungen im Millimeterbereich." Alle Top-Platzierungen die Jörg Müller, inzwischen bei BMW Mentor für jüngere Piloten, auf den Rennstrecken erreicht hat, würden Seiten füllen. Im japanischen Fuji ist er aktuell mit dem neuen BMW M6 GT3 in der Super-GT-Serie unterwegs. Da ist für die Bayern nicht nur das Auto, sondern auch der Pilot ein Vorzeigerenner mit höchstem Beliebtheitswert. Ganz einfach, weil Jörg Müller ein feiner und humorvoller Mensch ist.

(h.g.)
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