Serie 30 Jahre Mauerfall, Teil 2 Von Pionierin zur Karnevalsprinzessin

Doreen Budde stammt aus Görlitz, Ehemann Heinz aus Brachelen. Aus Anlass des Jubiläums „30 Jahre Friedliche Revolution“ erinnert sie sich an die Jugend in der DDR und ihren Neustart im Westen.

 Die Brachelener Familie Doréen und Heinz Budde mit Sohn Paul zeigt liebgewonnene Dinge aus der der DDR-Zeit, die man teilweise heute hier kaufen kann: Bautzner Senf, Filinchen und Kathi (Butterplätzchenteig). Natürlich darf auch der Sandmann nicht fehlen.

Die Brachelener Familie Doréen und Heinz Budde mit Sohn Paul zeigt liebgewonnene Dinge aus der der DDR-Zeit, die man teilweise heute hier kaufen kann: Bautzner Senf, Filinchen und Kathi (Butterplätzchenteig). Natürlich darf auch der Sandmann nicht fehlen.

Foto: Ruth Klapproth

Als sich die angehende Bäckereifachverkäuferin zu Beginn ihrer dreijährigen Ausbildung in der kleinen Bäckerei in Venrath den Männern in der Backstube vorstellte, konnte einer sich das Lachen nicht verkneifen. „Ich bin Doreen“, sagte sie damals erwartungsvoll und streckte freundlich ihre Hand aus. Dass „doreen“ auf Platt „durcheinander“ oder „verrückt“ bedeutet, wusste das junge Mädchen aus dem sächsischen Görlitz nahe der deutsch-polnischen Grenze nicht. „Du musst aber doch auch einen Namen haben“, ulkten ihre künftigen Kollegen.

Doreen hatte einige Jahre nach der Wende ihre Heimat verlassen, war der Einladung ihrer Tante aus Gerderath gefolgt, um bei ihr zu wohnen und in der Region Schulabschluss und Ausbildung zu machen. Sogar „knatschdoreen“ fand Heinz Budde sie, der als Bäcker in Venrath beschäftigt war. Es funkte, als beide mit Arbeitskollegen eine Diskothek an der Hückelhovener Parkhofstraße besuchten. Das Jubiläum 30 Jahre Friedliche Revolution – für Doreen Budde (41), die mit Ehemann Heinz (48) und dem 15-jährigen Sohn Paul in Brachelen lebt, ein Anlass, die alten Fotos und Ausweise aus dem Land, das es heute nicht mehr gibt und in dem sie aufgewachsen ist, zusammen mit ihrer Familie und der Rheinischen Post anzuschauen. Die feierliche Jugendweihe in weißer Bluse und schwarzem Rock mit Treuegelöbnis auf den Staat, die DDR. „Das wurde damals in der Stadthalle gefeiert“, erinnert sich die gebürtige Görlitzerin. Was stellt sich Paul, der Junge, der in Brachelen aufgewachsen ist, darunter vor? „Vielleicht so ähnlich wie meine Kinderkommunion?“, vermutet er. Seine Mutter nickt: „Nur eben nicht religiös.“ Die alten Bilder zeigen sie mit den Großeltern im Garten, ausgelassen beim Kinderfasching in der Schule. Für die fünfte Jahreszeit hatte Doreen Budde schon immer etwas übrig. „Nur hieß das bei uns nicht Karneval. Gefeiert wurde nur in der Schule. Eine Galasitzung einer Gesellschaft, sowas gab es nicht.“

Doreen Budde beschloss, alles Versäumte aufzuholen. Wurde in der Session 2011/2012 Prinzessin der Brökeler Kappehäuer, Ehemann Heinz Narrenherrscher der rot-weißen Traditionsgesellschaft. Im schmucken Ornat heirateten die Narrenregenten am Elften im Elften 2011 um 11.11 Uhr kirchlich. Diakon Heinz Brand traute das Paar, das wohl ohne den Mauerfall niemals zueinander gefunden hätte, in der romantischen kleinen Kapelle von Haus Berg. Doreen Budde, die an der Hauptstraße ein Geschäft mit selbstgefertigten Dekorationsartikeln betreibt und auch auf dem Hückelhovener Weihnachtsmarkt mit eigenem Stand anzutreffen ist, erinnert sich gern daran.

Aber auch die unbeschwerte Kindheit und Jugend in Görlitz, rund 800 Kilometer von Brachelen entfernt, waren schön. Was war anders? Kurze Momentaufnahmen werden in der gemütlichen Küche der Brachelener Familie wieder lebendig – als Thälmann-Pionierin mit obligatorischem Halstuch bei den Maikundgebungen, die dreieckigen Milchtütchen auf dem Pausenhof der Schule, seltene Besuche im überteuerten Intershop, in dem es so gut roch und wo die Schokolade verkauft wurde, deren Namen sie nie vergessen hat: Fanfare. Altstoffe sammeln, um die Klassenkasse aufzubessern und zum Beispiel einen gemeinsamen Wandertag zu finanzieren. „Das gab es bei uns im Dorf aber auch so ähnlich“, wirft Ehemann Heinz schmunzelnd ein. „Da wurde ein Traktor mit Anhänger organisiert, und los ging‘s. Wir haben früher Altpapier gesammelt.“ Gemeinsamkeiten, Unterschiede. Eierpfannkuchen nennt sie „Blinsen“, aber zu Brathähnchen sagt sie nicht mehr „Broiler“. Weil sie weiß, dass das in Brachelen niemand versteht. Wenn sie nach der Uhrzeit gefragt wird, sagt sie nicht mehr „dreiviertel zwei“ statt „viertel vor zwei“. Und aus dem Sonnabend wurde ein Samstag.

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