Interview: Thomas Decken "Ein Unfalltod verändert zehn Leben"

Hilden · Bei schweren Unfällen sind immer die Opfer und dessen Angehörigen im Blickpunkt. Kaum einer denkt an die Verwandten und Freunde eines Unfallfahrers. Der Direktionsleiter Verkehr bei der Kreispolizei will für das Umfeld sensibilisieren.

 Thomas Decken vor dem Hauptgebäude der Kreispolizei, seinem zweiten Arbeitsplatz. Der erste ist die Straße.

Thomas Decken vor dem Hauptgebäude der Kreispolizei, seinem zweiten Arbeitsplatz. Der erste ist die Straße.

Foto: Achim Blazy

Herr Decken, Sie wollen die Verursacher von Unfällen stärker in den Blick nehmen, ihnen Hilfe anbieten, auch wenn sie Schuld an dem Unfall hatten. Warum?

 So oder so ähnlich könnten die Plakate aussehen, mit denen die Polizei auf das Problem aufmerksam machen möchte.

So oder so ähnlich könnten die Plakate aussehen, mit denen die Polizei auf das Problem aufmerksam machen möchte.

Foto: Polizei

Thomas decken Die Verursacher stehen oft unter schwerem Schock und können auch später kaum ohne Hilfe mit dem Geschehenen zurechtkommen. In vielen Fällen braucht der Verursacher ebenso schnell eine Versorgung am Unfallort wie das Opfer. Diese Not müssen wir besser erkennen lernen. Es ist gleichgültig, ob der Verursacher Schuld an dem Unfall hatte oder nicht - es bleibt tragisch für ihn.

Sie sagen, ein Unfall verändert das Leben von zehn anderen Menschen. Mindestens. Wie das?

Decken Ich gebe ein Beispiel. Als im vorigen Jahr eine Lehrerin aus Mettmann bei einem Eisglätte-Unfall in Erkrath ums Leben kam, haben wir uns in der Folge mit der ganzen Schulklasse intensiv beschäftigt. Die Schüler hatten plötzlich keine Lehrerin mehr. Ein Mann verliert seine Partnerin, die Kinder verlieren die Mutter und so weiter. Auch wenn jemand "nur" schwer verletzt wird, ist das ganze Umfeld plötzlich betroffen, das Leben ist nicht mehr wir vorher. Das ist schwer zu ertragen.

Denken Sie deswegen darüber nach, die "Opfer der zweiten Reihe" in den Blick zu nehmen?

Decken Ja. Unter dem Motto "Ein Verkehrstoter - viele Unfallopfer" könnten wir eine Diskussion anstoßen und durchaus provozieren. Wir überlegen, ob wir unsere Aufsprühungen auf Straßen nach der Unfallaufnahme verstärkt als Medium nutzen. Diese Aufsprühungen nach echten Unfällen rütteln immer sehr auf, doch die echten wollen wir nicht länger als nötig sichtbar halten.

Warum nicht?

Decken Weil sie auch häufig bei den Angehörigen des Opfers - und des Verursachers - Wunden aufreißen, wenn sie gerade zu heilen beginnen.

Damit sind wir wieder beim Umfeld. Sie sagen, dass auch die Familien der Verursacher stark unter dem Ereignis leiden können. Was wissen Sie konkret darüber?

Decken Leider zu wenig. Die Verursacher reden oft gar nicht mit uns, weil wir als Polizisten für die Strafverfolgung zuständig sind. Entsprechend kommen wir auch nur selten an die Angehörigen heran. Deshalb entwickeln wir gerade ein neutrales Schreiben, das an die Verursacher von Unfällen gehen soll.

Was steht drin?

Decken Es bietet den Leuten Hilfe von einer anderen Stelle an, dafür brauchen wir als Polizei dringend seriöse Dritte, die das leisten können. An dieser Stelle könnten auch Wissenschaftler ins Spiel kommen, denn der ganze Bereich - was macht ein Unfall mit dem Täter? - ist wenig erforscht.

Was ist Ihr Interesse als Verkehrspolizist daran?

Decken Ich würde gern mit Verursachern und ihrem Umfeld arbeiten, um mit ihnen andere zu sensibilisieren. Dafür also, wie sehr man sein eigenes Leben verändert oder sogar zerstört - trotz oder gerade, weil man selbst gar nicht das Opfer ist. Übrigens setzen wir in unseren Crash-Kursen für Schülerinnen und Schüler genau auf dieses Konzept.

Haben Sie ein Beispiel für diese Vorgehensweise?

Decken Der Fahrer des Lieferwagens, der dem Radfahrer in Hilden auf der Beethovenstraße nicht mehr ausweichen konnte, war schwer traumatisiert. Ihn trifft keine juristische Schuld, das ändert aber nichts. In dem Fall hatte er Vorfahrt, doch bei Rechts vor Links hätte es womöglich ganz anders ausgesehen in der Schuldfrage. Skrupel und sein schlechtes Gewissen wird kaum jemand wieder los, das sagen wir auch der älteren Generation dauernd.

Was hat die damit zu tun?

Decken Es ist erwiesen, dass Menschen ab einem bestimmten Alter nicht mehr so flexibel und reaktionsschnell sind. Davon bleibt einfach niemand verschont, dennoch ist der private Verkehr ausschließlich seine persönliche Sache. Das verstehe ich nicht. Der Top-Killer auf den Straßen ist statistisch gesehen der PS-starke Privatwagen, doch deren Fahrer machen sich das nicht immer klar. Wenn dann die Reaktionen nachlassen - was völlig natürlich ist - potenziert sich die Gefahr gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern.

Radfahrer versuchen sich ja zunehmend mit Helmen zu schützen . . .

Decken Wenn ich Fahrradfahren deutlich sicherer machen will, muss ich vor allem an die Autofahrer heran - und nicht den Sicherheitsaspekt wieder zurück an die Radfahrer geben. Das wiederum gelingt nur mit beidseitiger Sensibilisierung, es gibt keine andere Chance meiner Meinung nach.

Im Vorjahr gab es neun Tote auf den Straßen des Kreisgebiets, in diesem Jahr ist es bisher zum Glück nur einer. Das spricht doch für mehr Einsicht und vorsichtigerem Fahren?

Decken Nein, es spricht für Glück und Zufall. Es hat ja niemand einen Einfluss darauf, wie schwer jemand verletzt wird oder ob er bei einem Unfall stirbt. Das hängt neben den verschiedenen Faktoren wie Wetter, Straßenbeschaffenheit und Geschwindigkeit auch davon ab, ob jemand körperlich fit ist oder nicht und mit welchem Verkehrsmittel er unterwegs war.

Zurück zu den Planungen. Wann wollen Sie die Diskussion öffentlich starten?

Decken Wenn wir alles fertig haben und alle juristischen Hürden beseitigt sind, werden wir unserem Landrat eine Kampagne empfehlen. Hoffentlich noch in diesem Jahr.

GÖKÇEN STENZEL STELLTE DIE FRAGEN.

(RP)
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