Herr Dörr, ein Sonntagsgottesdienst um 11 Uhr – und dann ist außer Ihnen nur noch ein Techniker dabei: Was war das für ein Gefühl für Sie in der leeren Kirche?
Interview Christian Dörr In der Krise suchen die Menschen Gott - auch digital
Haan · Kontaktverbote, geschlossene Gotteshäuser – und doch wenden sich gerade jetzt offenbar immer mehr Menschen wieder der Kirche zu. Seelsorge in Coronazeiten, auch eine Chance?
Der evangelische Pfarrer Christian Dörr hat am Sonntag in der Haaner Kirche an der Kaiserstraße 44einen Gottesdienst über den Videokanal YouTube zelebriert – und binnen 24 Stunden rund 1500 Zuschauer erreicht, 270 verfolgten das Ereignis live an den Bildschirmen. Im Interview spricht Dörr über Seelsorge in Zeiten von Corona und dass viele Menschen gerade jetzt Halt in der kirchlichen Gemeinschaft finden – auch wenn es zurzeit nur die digitale Variante ist.
Dörr Ganz ehrlich: Leere habe ich überhaupt nicht wahrgenommen. Im Gegenteil – ich habe mich darauf konzentriert, mir die Besucher vor Augen zu führen, die jetzt an den Computern, Smartphones oder Fernsehgeräten zuhören und mitfeiern. Dass es am Ende so viele sein würden, hat natürlich auch mich ein wenig überrascht.
270 eingeschaltete Geräte allein während des Gottesdienstes, dazu weit über 1000, die das ganze später noch im Stream gesehen haben. Das digitale Gotteshaus hat viele Menschen angezogen . . .
Dörr Rein zahlenmäßig betrachtet hatten wir so viele Besucher wie sie sonst allenfalls an den Weihnachtsfeiertagen in der Kirche zusammenkommen. Nimmt man jetzt noch die hinzu, die nicht alleine, sondern mit der ganzen Familie zugesehen haben, dürfte die Zahl noch deutlich höher liegen.
Haben Sie sich anders als sonst vorbereitet?
Dörr Abgesehen von den technischen Vorbereitungen ist die Predigt diesmal ziemlich lang geworden – gerade jetzt suchen die Menschen schließlich nach Antworten, Trost und Beistand. Dazu passte der Bibeltext über den verzweifelten Elia, der in seiner Not von göttlichen Boten gefunden und wieder aufgerichtet wird. Die Botschaft ist damals wie heute: Gott ist bei euch und kümmert sich. Wendet euch an ihn und ihr werdet spüren, dass er euch nah ist, gerade auch in Zeiten, in denen wir die Nähe von Begegnungen mit unseren Mitmenschen vermeiden sollen.
Da sprechen Sie einen zentralen Punkt an: die Kontaktverbote. Keine Hochzeitsfeiern, keine Taufen mit der ganzen Familie, Beerdigungen nur im Freien und auf wenige Personen beschränkt – wie kommen die Leute damit klar?
Dörr Taufen und Hochzeiten sind nicht das größte Problem, weil sie sich ja verschieben lassen. Tragisch wird es für Menschen, die Abschied von ihren Lieben nehmen müssen und dies nur in einer Zeremonie am offenen Grab mit ganz wenigen Teilnehmern tun dürfen. Wir hatten in der vergangenen Woche die erste Beisetzung nach der Reduzierung der Versammlungsmöglichkeiten. Zum Glück hat alles gut funktioniert.
Sie sollen ja auch seelsorgerische Gespräche möglichst nur noch am Telefon führen. Haben schon viele Menschen angerufen?
Dörr Viele waren es noch nicht. Aber wer in diesen Tagen anruft, trifft mich natürlich am Telefon deutlich leichter an, als früher. Da lief meist der Anrufbeantworter, weil ich auf Terminen war und erst später zurückrufen konnte. Die Chance, mich direkt zu erreichen, ist jetzt höher und ich habe auch mehr Zeit, mit den Menschen zu reden.
Bringt die Coronakrise die Menschen, die sich von der Kirche abgewandt haben, wieder zurück?
Dörr Das hat der Gottesdienst schon gezeigt, wie ich finde. Aber so entkirchlicht ist unsere Gesellschaft eigentlich gar nicht. Ich stelle das immer wieder fest, wenn Leute zu Taufgesprächen oder Ehe-Vorbereitungsgesprächen zu mir kommen. Da gibt es viele, die nicht in die Kirche gehen, die aber dennoch die Frage nach der Existenz Gottes umtreibt.
Welchen Satz kann man den Menschen mitgeben, denen die aktuelle Krise große Angst macht?
Dörr Da halte ich es mit Dietrich Bonhoeffer: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Einer der meistzitierten Sätze aus der Bibel ist „Fürchtet Euch nicht“. Das trifft heute ganz besonders zu. Lasst uns bei aller Besorgnis mit Gottvertrauen durch diese Zeiten gehen. Wer sich darauf einlässt, wird ihn spüren Das wird die Coronakrise nicht ungeschehen machen, aber uns die Kraft und Zuversicht geben, die wir jetzt brauchen.
In diesen Tagen wahrscheinlich ganz besonders …
Dörr Es ist ja auch nicht so leicht. In unserer hochtechnisierten und global vernetzten Welt sind wir gewohnt, dass wir unsere Probleme mit unserem Wissen und viel Aktion lösen können. Und jetzt kommt so etwas archaisches wie das Coronavirus daher – und wir müssen uns plötzlich daran gewöhnen, dass ein wichtiger Schlüssel zur Überwindung der Krise darin besteht, nicht in Aktionismus zu verfallen sondern sich zurückzuziehen. Das trifft viele hart, bietet aber auch die Chance, sich wieder mehr Zeit für einander zu nehmen – und sei es eben in einem Onlinegottesdienst unserer Gemeinde.
Wie oft werden sie diese Gottesdienste feiern und wann?
Dörr Zunächst immer sonntags um 11 Uhr. Aber wenn die Technik mitspielt, lässt sich das vielleicht auch ausweiten – vielleicht auf die 10-Minuten-Andachten. Montagmorgen hat mich ein alter Bekannter angerufen, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte und der mittlerweile im Landeskirchenamt arbeitet. Er ist ein Technik-Experte und hat angeboten, mir Tipps zu geben, was wir noch verbessern können.
Was können Sie denn verbessern?
DörrEr hat mir gezeigt, wie man die Aufzeichnung für den Stream bearbeiten und schneiden kann. Im Moment müssen alle, die sich den Gottesdienst von vergangenem Sonntag anschauen wollen, entweder erst einmal zehnminütiges Glockengeläut verfolgen, oder entsprechend im Beitrag vorscrollen. Da lässt sich noch einiges optimieren.