Haan Seine Fingerspitzen sehen unter die Haut

Haan · Eine erbliche Augenkrankheit hat Azzedine El Mansouri fast blind gemacht und alle Pläne fürs Leben auf den Kopf gestellt. In 13 Jahren hat der heute 30-jährige Physiotherapeut sich mit seiner Sehbehinderung arrangiert und geht seinen Weg durchs Leben.

 Azzedine El Mansouri war 17, als bei ihm die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa diagnostiziert wurde. Damals, 2006, betrug die Sehkraft noch 75 Prozent. Heute sind es nur noch vier. Mit geschärftem Tastsinn behandelt der staatlich geprüfte Physiotherapeut seine Patienten. Im Bundesgebiet gibt es etwa 400 blinde Physiotherapeuten.

Azzedine El Mansouri war 17, als bei ihm die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa diagnostiziert wurde. Damals, 2006, betrug die Sehkraft noch 75 Prozent. Heute sind es nur noch vier. Mit geschärftem Tastsinn behandelt der staatlich geprüfte Physiotherapeut seine Patienten. Im Bundesgebiet gibt es etwa 400 blinde Physiotherapeuten.

Foto: Köhlen, Stephan (teph)

„Guten Morgen, wie geht es heute?“ – „Der Nacken ist schon viel lockerer. Aber gezwackt hat es nach der letzten Behandlung schon.“ – „Das ist normal.“ Während dieses Dialogs greift Azzedine El Mansouri zur Flasche mit Öl. Der Physiotherapeut streicht mit der Handfläche über den oberen Rücken und beginnt mit der Behandlung des Patienten. Muskelfaser für Muskelfaser nimmt er unter seine schlanken Finger. Die ertasten verhärtete Stellen und bearbeiten sie gezielt. Der Patient hält manchmal den Atem an. Angenehm ist anders. Die Konsequenzen der ungünstigen Haltung bei der Computerarbeit und fehlender Ausgleichssport werden spürbar. Bevor eine Naturmoor-Packung mit entspannender Wärme die strapazierte Körperpartie verwöhnt, werden vier Übungen fürs Training daheim besprochen und ausprobiert.

Der 30-jährige Therapeut „sieht“ mit seinen Händen genau, wo die körperlichen Probleme beim Patienten stecken. Der gebürtige Wuppertaler mit marokkanischen Wurzeln ist nahezu blind. Seit inzwischen 13 Jahren verengt sich sein Gesichtsfeld immer mehr. Inzwischen beträgt die Sehkraft nur noch vier Prozent. In den Praxisräumen der Reha Neuer Markt in Haan bewegt er sich sicher. Auch bekannte Wege im Freien bewältigt er ohne Hilfe. „Ich zähle die Schritte“, sagt der Mann mit den schwarzen Haaren und den kräftigen Armen. In gänzlich fremden Städten nutzt er auch den Blindenstock. Er hat die Braille-Schrift gelernt, nutzt aber noch die Lupenfunktion seines Smartphones zum Lesen oder ein Lesegerät.

Der jugendliche Azzedine – seit der Kindheit hörgeschädigt – hat ein ganz anderes Ziel. Nach dem Abitur will er Maschinenbau studieren. Und weiter Fußball spielen. Der flinke Mittelfeldspieler hat sehr gute Kontakte in der Sportszene, verdient schon viel Geld. Doch plötzlich gibt es Probleme. Der Trainer fragt, warum der Kicker einem Mitspieler vors Schienbein getreten habe. „Ich dachte, da wäre der Ball.“ Als sich solche Vorfälle häufen, wird klar, dass es ernsthafte Augenprobleme gibt. Die Diagnose: Retinitis pigmentosa, eine erbliche Augenerkrankung, die erst nachtblind macht, dann Farben und Kontraste schwinden lässt und schließlich zum Tunnelblick führt.

„Das war ein Schock für mich“, sagt Azzedine El Mansouri. Er bricht die Berufsschule in Essen-West vorzeitig ab, hat mit psychischen Problemen zu kämpfen. Eine Augen-Operation in Kuba bringt nicht den erhofften Erfolg. Alle Träume sind zerplatzt. Ein Praktikum bei einem Physiotherapeuten aber gibt neue Perspektiven. Der Mann ist blind, kann sich in Azzedine hineinversetzen, ihm Ratschläge und Tipps geben. Das Arbeitsamt schickt ihn nach Düren zu einem sechsmonatigen Vorbereitungskurs. Das sehr gute Zeugnis eröffnet dem jungen Wuppertaler den Weg in die Ausbildung zum staatlich geprüften Physiotherapeuten in Mainz. Drei Jahre lebt er im Internat, saugt Lehrstoff und Erfahrung in diversen Praktika förmlich in sich auf. Lesen fällt schwer, führt zu Kopfschmerzen. In zahllosen Gesprächen mit Ärzten und Pflegern festigt und erweitert er sein Wissen.

El Mansouri arbeitet in Rehakliniken und Krankhäusern, behandelt auch Fußballprofis. Nach dem Examen schließt er eine Ausbildung in Lymphdrainage ab, ist danach im Wuppertaler Heliosklinikum im Bereich Onkologie und Palliativmedizin tätig. „Meine Stärke ist, dass ich fühle“, sagt Azzedine. Er findet die Triggerpunkte sofort, beherrscht Weichteiltechniken, kann Tumore ertasten, kennt unzählige Übungen zur Kräftigung oder Dehnung einzelner Muskelgruppen, weiß dem Laien das Zusammenspiel der Muskeln, Gelenke, Sehnen und Bänder zu erklären. Der Therapeut ist wissbegierig, bildet sich fort. Im Frühjahr erst bestand er die Prüfung für manuelle Therapie.

 „Beim ersten Kontakt mit dem Patienten mache ich mir ein Bild vom Ausmaß der Beschwerden.“ Im Gespräch werden Medikamenten-Einnahme, Vorhandensein von Tumoren oder Frakturen geklärt. Danach beginnt die eigentliche Behandlung. Azzedine nimmt sich Zeit für die Patienten.

Seit 1. Januar 2016 ist Azzedine El Mansouri bei der Reha Neuer Markt tätig, die zur Reeder-Unternehmensgruppe mit bundesweit mehr als 120 Praxen und vielen hundert Mitarbeitern gehört. „Ich bin sehr dankbar, dass ich hier arbeiten darf“, sagt Azzedine, der die sehr gute Zusammenarbeit mit den Kollegen schätzt und der Praxis- und Teamleitung durch Heike Staeding und Katrin Klaas für die Unterstützung dankt. Aber auch umgekehrt wird seine Arbeit sehr geschätzt. Ivonne Ribeiro, im Unternehmen Beauftragte für das Qualitätsmanagement in NRW, hat viele Gespräche mit Azzedine El Mansouri geführt. „Wir achten darauf, dass keine Barrieren in der Praxis sind.“ Bei der Farbgebung von Räumen und Mobiliar will das Unternehmen künftig auf die Seh-Defizite stärker Rücksicht nehmen.

Der Muslim schöpft große Kraft aus seinem Glauben. Seine Lektüre: der Koran, die jüdische Tora und neuerdings auch die Bibel. Azzedine El Mansouri hadert nicht mit seinem Schicksal. Er meistert sein Leben, glüht für seinen Beruf. Und bleibt seiner Devise treu, nie aufzugeben.

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