Haan Der Kampf um Gruitens Rathaus

Haan · Seit 1975 gehört Gruiten zu Haan. Das Gruitener Rathaus wurde nicht mehr gebraucht. Der Ankauf durch den Bergisch-Rheinischen Wasserverband war ein Krimi.

 Die Ansichtskarte zeigt das Rathaus Gruiten nach seiner Erweiterung um einen Anbau 1911.

Die Ansichtskarte zeigt das Rathaus Gruiten nach seiner Erweiterung um einen Anbau 1911.

Foto: Historische Postkarte

Der Verlust der Selbstständigkeit 1975 schmerzt manche Gruitener bis heute. Dabei sind Gruiten und Haan schon viel länger – man möchte fast sagen – schicksalhaft verbunden, wie ein Blick in die Archive zeigt. Die Gemeinde Haan wollte Stadt werden. Doch ihr Antrag vom 15. August 1890 wurde abgelehnt. Stattdessen schieden die Gemeinden Gruiten, Obgruiten, Schöller und Millrath aus dem Verband der Bürgermeisterei Haan aus und bildeten ab 1. April 1894 die eigene Bürgermeisterei Gruiten.

Jetzt wurde ein Rathaus gebraucht. Es entstand an der Ecke Bahn-/Düsselberger Straße in Gruite quasi auf der grünen Wiese, aber ganz in der Nähe der Bahnstation im Stil der Neuromanik. Eine kluge Entscheidung mit Weitblick, obwohl viele Gruitener das Rathaus lieber bei den Kirchen im Dorf gesehen hätten. Denn der gewählte Standort bot viele Entwicklungsmöglichkeiten – und löste an der Bahnstraße einen Baumboom aus. 1898 wurde ein Gefängnis mit einer Wohnung für den Polizeisergeanten an das Rathaus angebaut, 1900 ein Geräteraum mit Ziegenstall. Die anfangs vier Amtsstuben waren äußerst karg eingerichtet. 1902 bekam Gruiten Telefon-Anschluss, auch das Rathaus, 1905 elektrisches Licht. 1911 erhielt das Rathaus Gruiten einen Anbau mit einem Sitzungssaal. Von nun an sah es so aus, wie die Gruitener es bis heute kennen. Letzter Bürgermeister war August Thewes (CDU). Er war vom 23. August 1962 bis zum 31. Dezember 1974 im Amt. Seit dem 1. Januar 1975 bildeten Haan und Gruiten die Stadt Haan, Ergebnis der kommunalen Gebietsreform.

 So sah das Rathaus kurz nach seiner Fertigstellung 1896 aus. Die Baukosten betrugen 28.500 Mark.

So sah das Rathaus kurz nach seiner Fertigstellung 1896 aus. Die Baukosten betrugen 28.500 Mark.

Foto: Sammlung K. Martin, Repro: Lothar Weller

Dann geriet das Rathaus Gruiten in den Mittelpunkt eines politischen Krimis. Der Bergisch-Rheinische Wasserverband gehört zu den zehn großen in Nordrhein-Westfalen. Sein Verbandsgebiet umfasst rund 550 Quadratkilometer und die Städte Düsseldorf, Solingen, den Kreis Mettmann sowie zahlreichen Industrie-Unternehmen. Das BRW-Gelände in Solingen wurde zu klein. Haans Bürgermeister Franz Niepel und Stadtdirektor Heinz Goldenstedt boten das nicht mehr benötigte Rathaus Gruiten an. Doch die Solinger wollten den BRW nicht einfach so ziehen lassen und lockten mit 500.000 Euro aus Steuergeldern. Am 6. April entschied die Verbandsversammlung mit Mehrheit, von Solingen nach Gruiten umzuziehen. Solingen versuchte, unterstützt von Düsseldorf, den Beschluss aus formalen Gründen anzufechten. Vertreter von vier Gemeinden seien nicht stimmberechtigt gewesen, weil die Stadträte versäumt hätten, sie als Mitglieder für den Wasserverband zu wählen. Bürgermeister Franz Niepel aus Haan konterte mit einem umfangreichen Antrag: Die betroffenen Gemeinden hätten ihre Vertreter nachträglich legitimiert. Mit der hauchdünnen Mehrheit von zwei Stimmen konnte Solingen jedoch durchsetzen, dass noch einmal über den Ankauf des Gruitener Rathauses zu entscheiden sei. Haans Stadtdirektor Heinz Goldenstedt gab die Entscheidung noch nicht verloren und warb in der Verbandsversammlung mit guten Argumenten für den Umzug des BRW nach Gruiten. Dort sei die Nutzfläche größer als in Solingen, das Grundstück lasse auch noch Erweiterungen zu. Würde das BRW-Gebäude in Solingen aufgestockt, wäre die Kapazität damit für immer erschöpft.

 Gutsbesitzer Friedrich Kratz aus Gruiten war von 1894 bis 1904 der erste Ehrenbürgermeister der Gemeinde und des Amtes Gruiten, ein Ehrenamt.

Gutsbesitzer Friedrich Kratz aus Gruiten war von 1894 bis 1904 der erste Ehrenbürgermeister der Gemeinde und des Amtes Gruiten, ein Ehrenamt.

Foto: Stadtarchiv Haan

„Hätte Haan sein Gruitener Rathaus nicht angeboten, wäre es erst gar nicht zum Streit im Verband gekommen“, kritisierte ein Sprecher der IHK Solingen. Worauf Goldenstedt Solingen dessen Steuergeschenk von 500.000 Euro vorhielt. Die Klingenstadt wollte dem BRW die Summe als „verlorenen Baukostenzuschuss“ schenken, damit er in Solingen blieb. Die erneute Abstimmung endete mit einer großen Überraschung: Diesmal gab es zwei Stimmen mehr für den Ankauf des Gruitener Rathauses. Das Solinger BRW-Gebäude wurde verkauft. Die Stadt Langenfeld hatte übrigens für Solingen gestimmt. Die anderen kreisangehörigen Städte waren sauer über diese Verletzung der Kreissolidarität. Am 17 Mai 1977 zog der BRW in das Gruitener Rathaus ein.

 Stadtdirektor Heinz Goldenstedt fädelte das Millionen-Geschäft mit dem BRW ein. „Das Verkaufsergebnis gehört zu den großen Erfolgen der letzten Jahre“, sagte er 1976 bei einer Pressekonferenz.

Stadtdirektor Heinz Goldenstedt fädelte das Millionen-Geschäft mit dem BRW ein. „Das Verkaufsergebnis gehört zu den großen Erfolgen der letzten Jahre“, sagte er 1976 bei einer Pressekonferenz.

Foto: Stadt Haan

Bei der Räumung wurde im Keller eine Standuhr entdeckt. Ein echter Fund, wie Stadtarchivarin Birgit Markley später herausfand. Die Uhr wurde 1765 von Meister Johann Wilhelm Gerhards sen. in „Grüten“ gebaut, weist die Signatur aus. Gerhards sen. war einer der bedeutenden Meister der Bergischen Uhrmacherei. Er wurde um 1730 in Gruiten geboren. Keimzelle der Bergischen Uhrmacherei war Solingen ab etwa 1715. Sie erlebte ihre größte Ausdehnung um 1800. 1762 führt Meister Johann Wilhelm „Gerharts“ (die Fachliteratur ist sich über die Schreibweise des Familiennamens nicht ganz einig) aus Gruiten die Riege der bedeutenden Uhrmacher an. Der Verbleib von zehn seiner zahlreichen Stand- und Wanduhren ist noch bekannt. Die restaurierte Standuhr im Vorzimmer von Bürgermeisterin Bettina Warnecke ist die elfte. „Sie dürfte die letzte gewesen sein, die Meister Gerhards noch in Gruiten hergestellt hat“, glaubt Markley. Denn nach seinem Umzug nach Mettmann 1766 habe Gerhards sen. mit „Mettmann“ signiert. Der Uhrmachermeister wurde 1778 „Provisor“, Armenvorsteher der reformierten Gemeinde Mettmann und dort 1800 begraben. Auch sein Sohn Johann Wilhelm Gerhards/Gerharts jun. (1759-1815) führte das Uhrmacher-Handwerk des Vaters fort. Dessen Söhne indes wurden Schlosser und Packer.

 Die historische Standuhr von Meister Johann Wilhelm Gerhards senior wurde beim Auszug aus dem Rathaus Gruiten im Keller entdeckt und steht heute im Vorzimmer von Bürgermeisterin Bettina Warnecke.

Die historische Standuhr von Meister Johann Wilhelm Gerhards senior wurde beim Auszug aus dem Rathaus Gruiten im Keller entdeckt und steht heute im Vorzimmer von Bürgermeisterin Bettina Warnecke.

Foto: Fries, Stefan (frs)

Der Verkauf des Gruitener Rathauses 1976 spülte 1,4 Millionen Mark in die leere Haaner Stadtkasse – eine Riesen-Chance für die Stadtentwicklung. „Es ist uns die einmalige Möglichkeit gegeben, jetzt das Bürgerhaus in Gruiten auszubauen und ein ausreichend großes Verwaltungsgebäude in Haan zu schaffen“, betonte Stadtdirektor Heinz Goldenstedt: „Der Aufwand zahlt sich aus“. Tatsächlich wurde mit 800.000 Mark aus dem Verkaufserlös der große Saal im Bürgerhaus Gruiten fertiggestellt. Der Anbau mit einem Sitzungssaal für das Haaner Rathaus wurde nicht realisiert. Der BRW hat übrigens bis heute seinen Sitz in Haan-Gruiten und beschäftigt mittlerweile 250 Mitarbeiter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort