Geschichte und Zukunft des Kraftwerks Seit 50 Jahren steht Neurath unter Strom

Neurath · 1970 wurde der Grundstein für das Kraftwerk gelegt. Zur Anlage gehören die modernsten und leistungsfähigsten Blöcke der Braunkohleverstromung. Und am Horizont wartet ein Zukunftsprojekt.

 Das Foto entstand in den 70ern und zeigt das Kraftwerk kurz nach der Fertigstellung. Vor 50 Jahren wurde der Grundstein für die Anlage gelegt.

Das Foto entstand in den 70ern und zeigt das Kraftwerk kurz nach der Fertigstellung. Vor 50 Jahren wurde der Grundstein für die Anlage gelegt.

Foto: Stadtarchiv Grevenbroich

Für Ingenieure ist die Anlage der pure Fortschritt – mit einem beeindruckenden Plus von 30 Prozent beim Wirkungsgrad in den beiden modernsten Blöcken. Kaum irgendwo sonst auf der Welt wird mehr aus der Verfeuerung von Braunkohle heraus geholt. Für Wirtschaftshistoriker lodert hier die nie verlöschende Flamme unter dem Dampfkessel des weltweiten deutschen Wirtschaftserfolgs. Energie wird immer gebraucht. Für 750 Mitarbeitende ist es ein sicherer Arbeitsplatz. Umweltschützer hingegen sehen in der Anlage die zweitgrößte Dreckschleuder Europas mit einem viel zu hohen Ausstoß an klimaschädlichem Kohlendioxid. Der Grundstein für das Kraftwerk Neurath wurde vor 50 Jahren gelegt.

Die Geschichte Das derart vielschichtige und äußerst kontrovers diskutierte Projekt beginnt standesgemäß mit einem lauten Knall. Am 14. Januar 1970 fällt der 70 Meter hohe Schornstein der längst stillgelegten Brikettfabrik Neurath. Der gesprengte Kamin war 63 Jahre alt. 1858 war ganz in der Nähe zum ersten Mal im Nordrevier Braunkohle gefunden und seither über Jahrzehnte abgebaut worden. Doch jetzt wird Rheinbraun die Briketts kaum noch los und hat die alte Brikettfabrik deshalb zwei Jahre zuvor aufgegeben. Parallel aber wächst mit dem rasanten Wirtschaftsaufschwung in Deutschland der Hunger nach Strom.

Deshalb haben die Planer des RWE 1969 ein Kreuz auf die Landkarte östlich von Neurath gemalt. Auf dem Gelände der ausgedienten Brikettfabrik soll ein neues Kraftwerk entstehen. Das hat aus Sicht der RWE-Verantwortlichen gleich mehrere Vorteile: Weil man ein altes Industriegelände nutzt, ist der Verbrauch an landwirtschaftlich genutzter Fläche gering. Einige Gebäude der alten Fabrik können für die neue Stromerzeugung genutzt werden. Und ganz wichtig: Die Braunkohle rollt aus den Tagebauen Frimmersdorf und Fortuna über die Nord-Süd-Bahn herbei. Das neue Kraftwerk liegt etwa in der Mitte der beiden Tagebaue.

 Der 70 Meter hohe Schornstein der alten Brikettfabrik musste weichen.

Der 70 Meter hohe Schornstein der alten Brikettfabrik musste weichen.

Foto: RWE

Die Anlage Zwischen 1972 und 1976 knippst RWE fünf große Blöcke des neuen Kraftwerks Neuraths an. Drei von Ihnen liefern jeweils 300 Megawatt, zwei weitere Einheiten gehören zur 600 Megawatt-Klasse. 36 Jahre später krönen die beiden neusten Blöcke mit jeweils 1000 Megawatt, Grevenbroichs riesigen Dampf-Dynamo. In der Nomenklatur der Betreiber sind die beiden jüngsten Blöcke ganz simpel die Einheiten F und G. Das war selbst den kühlsten Strommachern eine Spur zu nüchtern, weshalb seither die Welt von den beiden „BoA“-Blöcken spricht.

„BoA“ steht als Abkürzung für „Braunkohlenkraftwerk mit optimierter Anlagentechnik“. Neue Werkstoffe und zahlreiche Verbesserungen im Detail treiben den Wirkungsgrad von den bis dahin üblichen 30 auf 43 Prozent; ein Wert, der kohlefreundliche Elektrotechniker immer noch beeindruckt. Die RWE spricht auf ihren Webseiten von „den leistungsstärksten Braunkohlekraftwerksblöcken der Welt“. Die nunmehr sieben Blöcke produzieren 4211 Megawatt für den Grundbedarf von Haushalten und Industrie. Lichtwellenleiter und digitale Technik haben das Kraftwerk Neurath mittlerweile so flexibel gemacht, dass es die enormen Schwankungen aus dem Bereich von Wind-, Solar- und Wasser-Energie ausgleicht; gewissermaßen auf Knopfdruck. Soviel Technik hat ihren Preis: 2,2 Milliarden Euro wurden investiert. Aber nicht nur das.

 Ein Blick auf die Baustelle: 1976 konnte das Kraftwerk Neurath in Betrieb genommen werden.

Ein Blick auf die Baustelle: 1976 konnte das Kraftwerk Neurath in Betrieb genommen werden.

Foto: RWE

Der Unfall Am Nachmittag des 25. Oktober 2007 löst sich auf der Großbaustelle der BoA-Blöcke eine Seitenwandbandage, ein Teilstück des Großkessels, aus ungeklärten Gründen. Es stürzt zu Boden. Das Konstrukt aus mehreren Stahlträgern wiegt mehr als 100 Tonnen und trifft mehrere Arbeiter. Drei Menschen sterben. Bei den Todesopfern handelt es sich um zwei Montagearbeiter aus der Slowakei im Alter von 32 und 35 Jahren sowie einen 25-jährigen Tschechen, zwei von ihnen waren Brüder. Fünf weitere Arbeiter werden schwer verletzt, zudem erleidet ein Mitarbeiter der Rettungskräfte während des Einsatzes einen Schwächeanfall.

Die Umwelt Klimaaktivisten haben einen völlig anderen Blick auf das Kraftwerk Neurath. Als RWE im Jahr 2004 den Antrag für den Bau der beiden BoA-Blöcke stellt, antwortet der BUND für Umwelt- und Naturschutz mit einem Gegengutachten. Neben der klimatischen Unverträglichkeit wird auf die Bedrohung einer vermuteten Feldhamster-Population hingewiesen. Nach einem Regierungswechsel in Düsseldorf erteilt die Bezirksregierung die Baugenehmigung. Aus Sicht der Umweltschützer ist das Kraftwerk Neurath mit einem Ausstoß von knapp 30 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr Deutschlands Klima-Killer Nummer eins.

Kohlekompromiss Im Rahmen des Kohlekompromisses ist bereits ein Teil des Kraftwerks Neurath in die Reserve gewechselt. Die älteren Blöcke sollen bereits in den kommenden Jahren abgeschaltet werden. Die beiden BoA-Blöcke sollen bis 2035 laufen und die Ära der Braunkohleverstromung in Deutschland beenden. Doch damit endet die Energie von Neurath nicht. RWE hat sich mit drei Projekten um Fördermittel für die Reallabore der Energiewende beworben. Gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und der Fachhochschule Aachen soll neben einem Kraftwerksblock in Neurath ein Speichermodul installiert werden. In dem Wärmespeicher soll mit Strom aus regenerativen Quellen flüssiges Salz auf 560 Grad erhitzt und in einem Tank gespeichert werden. Von dort könnten es Kraftwerkstechniker abrufen, sobald die Nachfrage wächst. Die Energie würde über einen Wärmetauscher und eine Turbine in das verwandelt, was Neurath seit jeher antreibt. In Strom.

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