Goch "Inklusion? Da wird sehr viel gelogen"

Goch · Ein Gocher an der Humboldt-Uni Berlin: Prof. Wolfgang Lamers, Dozent für Schwerbehinderten-Pädagogik, sagt: Inklusion kann so, wie sie jetzt geplant ist und umgesetzt werden soll, auf absehbare Zeit gar nicht funktionieren.

 Prof. Wolfgang Lamers, Gocher an der Humboldt-Uni in Berlin (l.), gestern im Gespräch mit Dr. Georg Kaster. "Seine" Arnold-Janssen-Solidaritätsstiftung zeichnet am Sonntag die Lebenshilfe aus.

Prof. Wolfgang Lamers, Gocher an der Humboldt-Uni in Berlin (l.), gestern im Gespräch mit Dr. Georg Kaster. "Seine" Arnold-Janssen-Solidaritätsstiftung zeichnet am Sonntag die Lebenshilfe aus.

Foto: Gottfried Eversa

Dieser Mann ist anders. Wolfgang Lamers, Gocher, Gaesdonck-Schüler, Professor am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, Fachrichtung Geistigbehindertenpädagogik, eckt an. Nicht um des Aneckens willen, sondern aus Überzeugung. Er sagt, auch als Wissenschaftler, ganz selbstkritisch: In Deutschland habe man die Integration von behinderten Kindern in den Schulen über Jahrzehnte schlichtweg vergessen. "Bis 1978 gab es in diesem Land für schwerbehinderte Kinder nicht mal eine Schulpflicht. Das muss man sich mal vorstellen."

Lamers ist überzeugt: Gebe es nicht die Lebenshilfe, genau jene Vereinigung, die am Wochenende mit dem Arnold-Janssen-Preis ausgezeichnet wird — dann, ist Lamers sicher, gäbe es immer noch keinerlei Bildungs-Strukturen für viele behinderte Menschen.

Auch das kein Zufall: Geistigbehindertenpädagogik sei auch an der Humboldt-Uni "der jüngste Zweig". Und das spiegelt sich auch in der Gesellschaft wider. Gerade mal bei 3,5 Prozent der behinderten Kinder könne man von Integration in der Schule sprechen. Lamers: "Es wird nirgendwo so viel gelogen wie in Sachen Inklusion." Vorbilder wie Skandinavien taugten nicht wirklich. Deutschland hat sich verpflichtet, dieses Thema umzusetzen. Aber es ist so stark ideologisch verschüttet, da gibt es immer nur Schwarz und Weiß. "Die Probleme, die entstehen, wenn man geistig Behinderte integrieren will, sind noch längst nicht alle erfasst, geschweige denn gelöst."

Unterschiedlichste Arten von Behinderungen — das bedeute auch: "Es gibt unterschiedlichste Beeinträchtigungen im Lernen. Man muss behinderten Kindern die Welt ganz anders erschließen." Er verstehe, dass Lehrer, die nun, scheinbar von jetzt auf gleich, das alles umsetzen sollen, protestieren — weil sie einfach überfordert sind, zumal man sie nie entsprechend ausgebildet hat.

In der Theorie sei alles nett. In der Praxis? Lamers: "Nehmen Sie mal Physik-Unterricht. Thema Schwingungen. Wie bringen Sie das einem Kind nahe, das nicht hören kann, das verhaltensauffällig ist oder eine schwere geistige Behinderung hat? Wie bringen Sie ihm dass so bei, dass der Unterricht für dieses Kind ebenso gut geeignet ist wie für einen hoch begabten künftigen Nobelpreisträger?" Das sei für die Lehrkräfte "eine enorme Herausforderung". Zur Zeit gestehe kaum jemand ein, dass es da vielfach noch keine Antworten gebe.

Aber dass sie kommen müssen, diese Antworten, sei klar. Dafür kämpft Lamers als Professor, als Ehrenamtlicher in der Lebenshilfe und ohnehin aus Überzeugung. Denn: "Wir wissen von Eltern aus der Integration, dass ihre Kinder sehr gute Fortschritte machen." Bessere als an Förderschulen, an Sonderschulen oder wie immer sie heißen? "Ja, in vielen Fällen bessere", so Lamers. "Aber eben nicht immer."

Am Samstag um 14.15 Uhr hält Lamers bei den "Gocher Gesprächen" auf der Gaesdonck einen öffentlichen Vortrag zum Thema.

(RP)
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