Aufstieg und Fall einer niederrheinischen Disco Schall und Rausch

Uedem · Nichts hat die niederrheinische Gemeinde Uedem berühmter gemacht als eine Disco, die vor 36 Jahren schließen musste. Doch schon bevor die Bauern Spritzen in den Feldern fanden, waren die Erwachsenen gegen den Schuppen.

 Verboten gute Frisur - DJ Martin Max 1976 hinter den Plattentellern im Schuppen

Verboten gute Frisur - DJ Martin Max 1976 hinter den Plattentellern im Schuppen

Foto: Martin Max

Es muss den Ort, den sie Schuppen nannten, wirklich gegeben haben. Auch wenn vieles dagegen spricht. Das Internet leugnet seine Existenz. Selbst wer nach dem offiziellen Namen „Weekend Saloon“ googelt, stößt nur auf ein paar dürre Erwähnungen.

Auf Papier ist wenig festgehalten. In einer Gewerbeakte steht: „C 2001 Bd. 3 Nr. 8 Brzylski, Heinz, Bahnhofstr. 67, Bierrestaurant, 1969-1990 .“ Zeitungsartikel erzählen bloß von den letzten Jahren des Schuppens, von den Dramen und den Drogen. Das aber ist nicht einmal die halbe Wahrheit.

Videos? Nein. Fotos? Schwer aufzutreiben. In den 70ern fotografierte sich kaum jemand bei der Freizeitgestaltung. Die wenigen Aufnahmen sind körnig und zeigen DJs vor einer mit Holz vertäfelten Wand und Jugendliche in Pullovern, die konzentriert zur Musik tanzen. Die Frisuren der Männer bedecken die Ohren vollständig.

Die beiden Gebäude, in der einst Kneipe und Disco untergebracht waren, stehen noch. Doch nichts deutet heute darauf hin, dass hier an Samstagabenden die Autos Stoßstange an Stoßstange parkten. Die Bahnhofstraße im niederrheinischen Uedem führt von der Landstraße Richtung Zentrum. Dichtgemachter Kiosk, dichtgemachte Tankstelle. Wer auf der rechten Seite noch ein paar Meter weitergeht, steht bald vor diesem zweistöckigen Gebäude in Beige, auf dem „Handelshof“ steht. Meterlange Risse ziehen sich durch den Putz. Auf der Rückseite schließt sich ein langgezogener Bau an, ein Erdgeschoss mit rotem Ziegelsteindach, die Rollläden auf ewig heruntergelassen. Der Twingo auf dem Platz daneben hat kein Nummernschild. Auf der Welt gibt es sieben Milliarden Menschen, an einem Samstagabend gibt es hier keinen einzigen.

 Wo einst der Schuppen war, stehen heute nur noch die beiden Gebäude - links war die Kneipe untergebracht, unterm roten Ziegeldach die Disco.

Wo einst der Schuppen war, stehen heute nur noch die beiden Gebäude - links war die Kneipe untergebracht, unterm roten Ziegeldach die Disco.

Foto: Evers, Gottfried (eve)

Doch wer Leuten außerhalb von Uedem erzählt, dass er aus Uedem kommt, der erhält entweder keine Reaktion oder: Der Schuppen! Nichts hat die Gemeinde von 8000 Einwohnern in der Welt berühmter gemacht als eine Disco, die es nicht mehr gibt.

Wer etwas über den Schuppen erfahren möchte, ist auf die Menschen angewiesen, die damals dort waren, meist geboren zwischen 1955 und 1965. Nur erinnern sich diese unterschiedlich und unterschiedlich zuverlässig. Manche wollen erst nach langem Zögern sprechen, manche gar nicht, darunter einer, der der erste Uedemer mit Ghettoblaster gewesen sein soll und heute den Zeugen Jehovas angehört. Einige können auch nicht mehr sprechen, weil sie viel zu früh umkamen.

Nach allem, was zu erfahren ist, betraten die Menschen den Schuppen durch die Tür. Mittwochs, freitags, samstags und sonntags. Man kam früh, ab 19 Uhr, dafür war um eins Schluss. Niemand bewachte die Tür, niemand kontrollierte die Ausweise. Der Eintritt war frei, zunächst jedenfalls. Im Vorraum standen ein Billardtisch und ein Kicker. Eine heute nahezu ausgestorbene Erfindung namens Pommesautomat frittierte nach Geldeinwurf.

In der Kneipe stand das Ehepaar Brzylski hinter der Theke, Hildegard und Heinz, Jahrgang 1934. Heinz, klein, drahtig, Amateurboxer, sorgte für Ordnung. Einmal kam ein Mann mit Pistole in den Laden, Heinz stellte sich in den Weg. Hildegard zapfte Pils und Alt, manchmal brachte sie dem DJ belegte Brote. Die beiden hatten zuvor in der Nähe von Moers eine Gaststätte betrieben, mit Kegelbahn und Speisen. 1969 übernahmen sie die Kneipe an der Bahnhofstraße, gleich neben einem Schlachthof, und zogen mit ihrem Sohn Jürgen in der Wohnung darüber ein. Ein paar junge Gäste brachten sie auf die Idee, was aus dem Saal hinter der Kneipe zu machen, 200 Quadratmeter groß. Nicht Chorauftritte oder Vereinsfeiern wie frühere Pächter, sondern eine Disco. Die Brzylskis hatten keine Ahnung, wie man eine Disco betrieb, die jungen Gäste schon und gaben Ratschläge. So begann das Herz des Schuppens zu schlagen.

Wer früh kam, roch noch den kalten Rauch. Der Saal mit dem Holzfußboden war schlicht eingerichtet. Jeder erinnert sich an die alten Zweiersitze mit Plastikbezug, die die Brzylskis aus einem alten Linienbus geschleppt hatten. Zunächst hatten sie es mit Polstermöbeln versucht, aber die gingen schnell kaputt. Zwischen den Bussitzen standen Bierfässer mit einer Holzplatte obendrauf. Der Schuppen war düster, man konnte knutschen, ohne beobachtet zu werden. Alles war genau so, dass es Jugendliche anzog. Kein Eintritt, keine Kontrollen, keine schicken Möbel. Kellnerin Gabi hatte zwar darauf zu achten, dass jeder ein Getränk zu sich nahm – „Watt trinkse?“ - „Nix.“ - „Heiiinz, komma, da will einer nix trinken.“ - dann ließ sie die Leute aber in Ruhe. Ein Getränk war für Jugendliche teuer genug. Die jüngsten waren 14, 15. Die Minderjährigen schickte Sohn Jürgen erst um 22 Uhr raus. Pech hatten vor allem die, die mit ihm zur Schule gingen, weil er ihr Alter kannte.

 Mit dem Mikro sagte der DJ die Songtitel durch.

Mit dem Mikro sagte der DJ die Songtitel durch.

Foto: JG

Der Schuppen war der Ort, an dem niemand befürchten musste, auf seine Eltern zu treffen. Im Schuppen sah man Freunde und Gleichgesinnte. In der Provinz gibt es keine Subkultur, die groß genug wäre, um einen Laden zu füllen, aber viele der Gäste würde man heute „alternativ“ nennen. Leute, die ihr eigenes Ding machten. Coole Typen. Lange Haare, Bundeswehrparka, Jeans. Die Gäste brezelten sich nicht auf, sie trugen, was sie schon morgens in der Schule getragen hatten. Wenn der Schuppen politisch war, dann war er links. Der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay hat einen langen Wikipedia-Eintrag für jemanden, der kein Prominenter ist, weil er 1981 bei einer Polizeiaktion in Berlin unter einen Bus geriet und starb. Die Umstände wurden nie völlig aufgeklärt. Einige Jahre zuvor hatte Rattay noch vor dem DJ-Pult auf der Tanzfläche des Schuppens gesessen.

Nicht nur deshalb war das kein Ort für Eltern. Im Schuppen lief sehr unterschiedliche Musik, aber um Himmels Willen kein Schlager. Was wann zu welchen Anteilen gespielt wurde, haben Leute unterschiedlich in Erinnerung, aber Soul und besonders Rock liefen ständig. Die DJs Doc Ali und Martin Max und Johannes Jentjens legten Schallplatten von Deep Purple auf, Jethro Tull, Creedance Clearwater Revival, Rolling Stones, Black Sabbath, Led Zeppelin, Pink Floyd, Supertramp. Die Titel sagten sie durchs Mikrofon an. Viele Discos in der Region gab es nicht, die so viel Rock spielten, bloß das Backes in Goch und das Pam-Pam in Geldern. „Ich wollte richtig auf Musik abgehen, nicht nur ein bisschen“, sagt ein Besucher. Für viele Eltern war so was „Negermusik“.

Auch die Brzylskis konnten mit Rockmusik nichts anfangen. „Hätte sich deren Geschmack durchgesetzt, wäre der Schuppen nie erfolgreich gewesen“, sagt ein früherer DJ. Manchmal legte Hildegard auf, wenn der DJ zu spät kam. Das fanden die Gäste gar nicht gut, gibt sie heute zu. Doch solange der Laden lief, war den Brzylskis die Musik egal. Sie waren keine Idealisten, sondern geschäftstüchtig. Einmal beschwerte sich Heinz allerdings so lange bei Martin Max über die Rockmusik, bis der hinschmiss. Weil danach weniger Besucher kamen, erzählt Max, rief Frau Brzylski an und bat ihn zurückzukehren. Er kam zurück unter der Bedingung, nur noch aufzulegen, was er wollte. Der Schuppen wurde wieder voller.

Mehr als 500 Leute kamen in den besten Zeiten an einem Abend. Viele standen einfach draußen rum, saßen auf den Fensterbänken, führten sich gegenseitig das neue Mofa oder das neue Auto vor. Wo sie früher mit dem Kinderchor aufgetreten waren, lösten sie sich nun von ihren Eltern. Wobei das kein Ort für alle Jugendlichen war. Viele kamen nie, manche nur einmal, „Seh-Leute“ nannten die anderen die. Die Erwachsenen entwickelten ohnehin schon früh Vorbehalte gegen den Schuppen. Viele verboten ihren Kindern hinzugehen, die gingen dann heimlich. Das war ihr Ort.

Blöderweise hatten die Erwachsenen irgendwann handfeste Gründe für ihre Vorbehalte.

Denn was den Schuppen ausmachte, würde zwar erklären, warum er so beliebt war bei Teenagern aus der Gegend und zwar so beliebt, dass Frau Brzylski noch heute darauf von Leuten angesprochen wird. So beliebt, dass Leute davon sprechen, dort „die geilste Zeit überhaupt“ verbracht zu haben. Doch es würde nicht erklären, warum später Autos mit Kennzeichen aus dem Ruhrgebiet dort parkten.

Schon früh gingen in den Schuppen nicht nur Leute, die rauchten, sondern auch Leute, die kifften. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Junge Menschen, Rockmusik, ein paar Minuten Autofahrt von Holland entfernt. Sie kifften weniger im Schuppen selbst - das gab Ärger mit Heinz - aber vorm Schuppen, daneben, dahinter. Bald kamen die Haschisch-Dealer. Keine Fremden, sondern Leute aus der Gegend, die was mitbrachten von ihren Holland-Touren. Schon das ließ den Eltern die Haare zu Berge stehen, Haschisch war noch lange keine gefühlt legale Droge. „Damals war Kiffen wie ein Banküberfall“, sagt ein damaliger Konsument.

Dann kam das Heroin. Nicht allen waren Hardrock und ein Joint Alltagsflucht genug. Es muss in der zweiten Hälfte der 70er gewesen sein. Das Backes in Goch schloss, die Dealer zogen einen Ort weiter. Dealer, die nach Amsterdam fuhren, ein paar Gramm kauften, über die Grenze schmuggelten, sich den Großteil selber spritzten und den Rest beim Schuppen-Publikum loswurden, um ihren Konsum zu finanzieren. Kinder angesehener Eltern, von Polizisten, Amtsleuten. Heroin war damals keine Droge armer Menschen. Zwischen erstem Joint und erster Spritze lagen manchmal nur einige Monate. Für die jungen Leute war das spannend. Das Leben auf dem Land war nicht aufregend, die Eltern waren Spießer. Das Verbotene versprach Abwechslung, das Spiel mit der Polizei hatte seinen Reiz. Sie kauften und verkauften auf dem Bürgersteig vorm Schuppen oder am benachbarten Wellesweg, zum Spritzen fuhren sie mit dem Auto in den Wald. Noch heute sagen viele Gäste von damals, dass sie davon nie etwas mitbekommen hätten.

Das konnte nicht lange gutgehen. „Erst nimmst du es mal am Wochenende und irgendwann merkst du, wie schwer es ist, wieder auszusteigen“, sagt ein Uedemer, der schließlich 10 bis 15 Mal täglich spritzte. „Dann drehte sich irgendwann alles nur noch um das scheiß Heroin. Du musst jeden Tag gucken, das Zeug zu kriegen.“ Auf 50 bis 60 Abhängige schätzt er die Zahl Anfang der 80er in Uedem. Bauern sollen Spritzen in ihren Feldern gefunden haben, ein größerer Kontrast ist nicht denkbar. Die Polizei war überfordert. Zu wenige Beamte für zu viele Kleinkriminelle. „Wir haben nächtelang observiert, aber es war wenig zu machen“, sagt ein Polizist.

Schon Anfang der 70er war eine junge Uedemerin unter Drogen auf einen Bundeswehrturm geklettert und runtergesprungen. Sie dachte, sie könne fliegen. Im Juli 1980 wurde ein 22-jähriger Metzgersohn tot in der Toilette einer Eisdiele im Nachbarort gefunden, die Spritze neben ihm. Einer lag tot auf der Rückbank eines Autos. Ein Vater erschoss sich, weil seine Söhne wegen Drogen inhaftiert worden waren. „Unruhe und Leid hat viele unserer Familien erfasst“, sagte Gemeindedirektor Josef Michels 1982 unserer Zeitung. Ein paar Tage später fragte die Bildzeitung in einer Überschrift: „Warum gibt's schon 80 Fixer in einer Kleinstadt am Rhein?“ Und weiter: „Das ist nicht Berlin. Das sind nicht die Kinder vom Bahnhof Zoo. Das ist Uedem, eine saubere Gemeinde bei Kleve am Niederrhein.“ Uedem hatte ja nicht mal einen Bahnhof.

Uedemer Eltern hatten jahrelang keine Ahnung gehabt, was ihre Kinder trieben, spätestens nach dem Artikel mussten sie erkennen, dass sie ein Problem hatten. Also wandten sie sich an ihre Lokalpolitiker. Viele machten die Disco verantwortlich für den Drogenkonsum ihrer Kinder, obwohl doch niemand sie gezwungen hatte, Drogen zu nehmen. „Der Schuppen machte uns Sorgen“, sagt Werner van Briel, von 1979 bis 2004 Bürgermeister der Gemeinde, „aber wir konnten die Disco nicht einfach schließen.“ Die Betreiber taten schließlich nichts Illegales, mit den Dealern hatten sie nichts zu tun. Wer konsumierte, den setzte Heinz vor die Tür, sprach Hausverbote aus. Nur leider hatten die Brzylskis das Pech, Leute anzulocken, von denen einige für Drogen empfänglich waren. Einer Schlagerdisco wäre das nicht passiert.

Die Gemeinde sah keine Alternative, als den Schuppen irgendwie loszuwerden. Die einfachste und schnellste Lösung. Also schoben die Gemeindeoberen Ordnungsmaßnahmen vor. Sie ließen einen Regler in die Musikanlage bauen, der die Lautstärke automatisch begrenzte. DJ Martin schmiss deshalb hin, diesmal endgültig. Sie forderten hellere Beleuchtung im Saal und sie richteten Parkverbote rund um die Disco ein. 1982 stellte die Gemeinde doppelt so viele Knöllchen aus wie im Jahr zuvor. Als die Betreiber ein Feld gegenüber der Disco als Parkplatz mieten wollten, soll der Gemeinderat die Besitzer besucht und noch umgestimmt haben. Die Brzylskis wehrten sich mit einem Anwalt, aber ohne Erfolg. Die Besucher wurden weniger, das mag aber auch an neuen Discos in anderen Orten gelegen haben.

Als die Kreisbehörde 1982 doch noch einen Weg fand, den Schuppen zu schließen, tanzten dort nur noch ein paar Dutzend Leute im Hellen, erinnert sich Sohn Jürgen. Die Behörde hatte festgestellt, dass die Brzylskis bloß eine Genehmigung für eine Kneipe hatten, nicht aber für eine Disco. Der Kreis dachte gar nicht daran, ihnen diese noch zu geben. Der Schuppen war mit einem Mal Geschichte. In einem Verwaltungsbericht aus Uedem war zu lesen: „Die Rauschgiftsituation verschonte auch nicht die Gemeinde. Es krümmt sich die Feder, mehr darüber zu berichten. Geschrieben sei aber, daß es für den Bereich des Gemeindegebietes mit ganz außerordentlichen Anstrengungen geschafft werden konnte, die direkte Einwirkung der Drogenszene gegen Ende 1982 zu tilgen. Viele Bürger, Eltern und Familien haben dies dankbar zur Kenntnis genommen.“ Den Ort, der die Drogen angelockt hatte, gab es nicht mehr. Den Ort, der eine Alternative für Leute war, die sich anderswo nicht wohl fühlten, allerdings auch nicht.

Uedem war sein Problem mit dem Drogenhandel los, die Gesellschaft nicht. Die Dealer zogen weiter. Zwei Rauschgifttote zählte die Polizei 1982 im Kreis Kleve, 1983 waren es elf. Heinz Brzylski versuchte es zunächst mit einem Bistro in der Kneipe, dann mit einem Video-Kino und Boxtraining im Saal. Schließlich arbeitete er noch ein paar Jahre beim örtlichen Kanalbauer. Vor einem Jahr zog eine Auto-Werkstatt wieder aus dem Gebäude, in dem einst getanzt wurde. Von einer Disco war dort nichts mehr zu sehen, sagt der Betreiber.

Der Mann, dem das Grundstück damals schon gehörte, hat es vor wenigen Wochen verkauft. Noch ist unklar, was dort passieren soll. In Uedem spekulieren sie auf einen Supermarkt und eine Drogerie. Dann werden die schweren Fahrzeuge anrücken und alles niederreißen. Der Schuppen wird nur noch in den Köpfen sein. Irgendwann nicht einmal mehr dort.

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