Mensch & Stadt Auf 64 Feldern ist die Welt in Ordnung
Geldern/Issum · Maryna Nezhyvenko ist mit ihren Kindern aus Kiew geflohen und hat in Sevelen vorübergehend eine neue Heimat gefunden. Ihr Sohn Mischa ist ein begnadeter Schachspieler und träumt von der Deutschen Meisterschaft.
Das königliche Spiel ist ein Teil der ukrainischen Kultur. Nicht ohne Grund ist die Ukraine Mannschafts-Weltmeister im Schach. Maryna Nezhyvenko ist verheiratet, hat zwei Kinder im Alter von vier und acht Jahren und kommt aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Sie hat an der Universität Germanistik und Anglistik studiert, spricht also fließend deutsch und englisch.
Als Kiew im März unter Beschuss russischer Truppen geriet, suchte sie für ihre beiden Kinder und sich nach einer Gastfamilie in Deutschland und schrieb den Deutschen Schachbund an. Der Verband hatte auf seiner Homepage angekündigt, Schachspielern aus der Ukraine unbürokratisch helfen zu wollen. „Mein achtjähriger Sohn Mischa spielt schon sehr gut Schach und hat in der Ukraine viele Turniere gewonnen. Deshalb habe ich am 17. März eine E-Mail an den Schachverband geschrieben“, sagt die zweifache Mutter.
Daniel Mrugalski aus Sevelen betreibt einen florierenden Handel mit Modelleisenbahnen. In seiner Freizeit spielt er gemeinsam mit seiner Tochter beim TTC Geldern-Veert Schach. Im Vorfeld hatte er sich bereits mit seiner Frau über eine mögliche Flüchtlingsaufnahme unterhalten. „Als ich von dem Aufruf des Schachbundes gehört hatte, habe ich mich direkt dort gemeldet und angeboten, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen“, sagt Mrugalski.
Nun ging alles sehr schnell, bereits eine Woche später konnte der Unternehmer die Familie am Duisburger Hauptbahnhof abholen und auf seinem geräumigen Grundstück einquartieren. Den achtjährigen Mischa, der richtig Mykhaylo heißt, nahm er mit zum Schachtraining und zog gleich am ersten Abend die Aufmerksamkeit der routinierten Herren auf sich. „Wir waren alle mehr als beeindruckt, mit welcher brutalen Aggressivität er spielte und die Partien zum größten Teil gewinnen konnte“, erinnert sich Mrugalski.
„Mein Sohn ist kein Wunderkind, aber er spielte schon Schach, noch bevor er schreiben konnte. Da war er vier Jahre alt. Und ein gutes Jahr später besuchte er neben der normalen Schule regelmäßig die Schachschule. Zuerst zweimal pro Woche, dann irgendwann drei Stunden täglich. Und am Wochenende hat er Turniere gespielt“, so Mutter Maryna.
Dabei geschieht alles aus freien Stücken. Der kleine Mischa liebt ganz einfach das Geschehen auf den 64 Feldern, auf denen die Welt noch in Ordnung ist. „Mein Sohn findet schnell Kontakt und spricht auch andere Kinder in seinem Alter an. Aber Schach ist sein Leben, was soll man da machen.“
Im April ermittelte die Schachjugend NRW in der Jugendherberge Wolfsberg in Kranenburg ihre Meister. Eugen Brück, Vorsitzender des TTC Geldern-Veert, sorgte dafür, dass Mischa bei den Titelkämpfen an den Start gehen durfte. In seiner Altersklasse U 10 deklassierte er förmlich die Konkurrenz, gewann acht von neun Partien, einigte sich einmal auf ein Remis und wurde zum neuen NRW-Meister im Schach gekürt.
Damit hat sich der Junge für die Deutsche Schachmeisterschaft qualifiziert, die Anfang Juni in Willingen stattfindet und an der er sehr gerne teilnehmen würde. Doch da ist noch ein Haken an der Sache. Die Kosten für die Unterbringung müssen die Teilnehmer selber bezahlen. Im Fall von Mischa, der mit seiner Mutter und seiner Schwester anreisen würde, kämen rund 1500 Euro zusammen. „Wir hoffen, dass es Fördermittel vom Landessportbund oder vom Deutschen Schachbund gibt, die seine Teilnahme ermöglichen“, so Mrugalski.
Mischa ist in der neuen Umgebung bereits angekommen und fängt an, sich heimisch zu fühlen. „Der Junge hat direkt einen Platz in der Gebrüder-Grimm-Schule in Issum erhalten. Das ist prima gelaufen“, sagt der Sevelener Geschäftsmann. „Leider konnten wir für die vierjährige Tochter keinen Kindergartenplatz bekommen, weil die Einrichtungen voll sind.“ Deshalb sind Maryna Nezhyvenko, die mit ihren Sprachkenntnissen gerne anderen Flüchtlingen aus der Ukraine helfen würde, zurzeit noch etwas die Hände gebunden.
Die 37-Jährige möchte mit ihren Kindern möglichst schnell nach Kiew zu ihrem Mann zurückkehren, der in der Ukraine bleiben musste, um sein Land zu schützen. Vielleicht kann Mischa seinem Vater dann stolz erzählen, wie er Deutscher Meister geworden ist.