Kolumne „Der Kinderarzt“ Ein Denkmal für die vielen Mütter setzen

Kreis Kleve · Kinderarzt Dr. Wolfgang Brüninghaus aus Kleve kritisiert, wie wenig Unterstützung Mütter von behinderten Kindern durch die Behörden oft bekommen. Er fordert einen besseren Umgang gegenüber Menschen mit Behinderungen.

 Dr. Wolfgang Brüninghaus, Kinder- und Jugendarzt aus Kleve

Dr. Wolfgang Brüninghaus, Kinder- und Jugendarzt aus Kleve

Foto: Brüninghaus

In meinen 34 Jahren als Kinderarzt habe ich viele Mütter begleitet, die ein schwer behindertes Kind gepflegt, beschützt, und gefördert haben, meist ohne jede Rücksicht auf sich selbst, und oft genug ganz allein. Wie gerne würde ich ihnen ein Denkmal setzen! Allen gemeinsam ist, dass die Mütter meist die Hauptlast der Versorgung behinderter Kinder tragen, nicht selten unter Aufgabe all jener Lebensinhalte, die unter normalen Bedingungen für essentiell angesehen werden.

Und immer wieder müssen Hindernisse überwunden werden, die für gesunde Menschen nicht existieren oder die unbelastete Eltern mit etwas Energie locker bewältigen könnten. Aber jahrelange Sorge um ein krankes Kind macht eben irgendwann müde. Wie oft habe ich schon fassungslos den Berichten der Familien zugehört, wenn sie um Unterstützung kämpfen mussten, die sie ohne Behinderung niemals hätten in Anspruch nehmen müssen. Wie verletzt waren sie, wenn sie mit fehlendem Gespür für die verzweifelte Hilflosigkeit der Kranken und ihrer Familien konfrontiert wurden.

Muss die alleinstehende Mutter, die ihren schwer autistischen Jungen unter größten Mühen versorgt, wirklich vier Mal einen neuen Kostenvoranschlag einreichen, um einen Zuschuss zur Anschaffung eines Autos zu bekommen? Die zuständige Sachbearbeiterin hätte sicher in zehn Minuten den Antrag mit der Mutter gemeinsam so formulieren können, dass sie ihn ohne Gewissensbisse hätte genehmigen können. Stattdessen hat sie in vier Anträgen nach immer neuen Vorwänden zur Ablehnung gesucht. Für mich als Bürger stellt sich da die Frage, ob ich wirklich eine Verwaltung will, die gezielt die Erschöpfung der Antragsteller einkalkuliert, um sie zu zermürben und dadurch vielleicht etwas Geld zu sparen.

Wie wenig zählt Menschlichkeit in unseren Amtsstuben, wenn der verwitweten Mutter, die vor 30 Jahren aus den Philippinen nach Deutschland kam, die hier keine Kontakte hat, weil sie ihren behinderten Sohn, der sich nicht bewegen kann, der blind ist und der kein Wort sprechen kann, 15 Jahre lang ganz alleine gepflegt hat, verboten wird, ihre Schwester aus der Heimat als Pflegerin und Gesellschafterin zu sich zu holen, „weil es in Deutschland genug arbeitslose Pfleger gibt“?

Benjamin, auch ein autistisches Kind, rannte immer aus der Schulklasse, und der Lehrer musste sich entscheiden, entweder hinter ihm herzurennen oder bei den anderen Kindern der Klasse zu bleiben. Im Januar wurde die alleinerziehende Mutter von der Schule gebeten, einen I-Helfer zu beantragen. Ende April kam sie verzweifelt mit vier Briefen zu mir, in denen zwei Jugendämter sich immer wieder den schwarzen Peter der Kostenübernahme zuschoben. Erst eine Beschwerde beim Landrat brachte dann eine Entscheidung: Mitte Mai wurde ein I-Helfer rückwirkend ab Januar für sechs Monate – von denen inzwischen nur noch sechs Wochen übrig waren – bewilligt.

Natürlich sind diese Beispiele besonders dramatische Einzelfälle, denn wenn Unterstützung reibungslos klappt, wird ja kaum darüber gesprochen. Und es gehört auch zur Wahrheit, dass die Sozial- und Jugendämter in vielen Städten einfach unterfinanziert sind. Aber Familien mit behinderten Kindern sind oft besonders hart von Widerständen betroffen, weil ja hinter jeder Hürde, die eben überwunden wurde, schon wieder das nächste Problem sichtbar wird. Da ist irgendwann einfach die Ermüdung zu groß. Und kaum etwas ist so erniedrigend, als Unrecht nur deshalb hinnehmen zu müssen, weil man zu erschöpft ist zum Widerspruch. Wie schön wäre es, wenn jeder, der mit und über Menschen entscheiden muss, sich täglich daran erinnert, dass seine größte Verantwortung die für die Menschlichkeit ist und dies ganz gewiss in besonderem Umfang gegenüber Menschen mit Behinderungen. Ein frommer Wunsch, gewiss, aber dann wären wir der Inklusion tatsächlich ein ganzes Stück näher gekommen.

Dr. Wolfgang Brüninghaus, Kinder- und Jugendarzt aus Kleve, schreibt an dieser Stelle alle paar Wochen von seinem Beruf. FOTO: BRÜNINGHAUS

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