Stadtwerke Geldern Präsentieren Verschwundene Orte (8) Gelderns Zeit als Tabakhochburg

Geldern · 1885 galt die Tabakproduktion als bedeutender Industriezweig. Allerdings führte die Erhöhung der Steuer zu ernsten Schwierigkeiten bei den Unternehmen. Streiks waren die Folge. Tabak wurde sogar in heimischen Blumenkästen angebaut.

 Es dampfte und rauchte auf der Kapuzinerstraße in Geldern. Dort hatte die Tabakfabrik der Gebrüder Kersten ihren Sitz.

Es dampfte und rauchte auf der Kapuzinerstraße in Geldern. Dort hatte die Tabakfabrik der Gebrüder Kersten ihren Sitz.

Foto: Geschw.Kersten

Geldern Vergilbt und ein bisschen mitgenommen sieht die Verpackung aus, die auf dem Wohnzimmertisch beim Gelderner Heinz Bosch liegt. Herübergerettet sei sie, sagt Gelderns Lokalhistoriker. Die Schachtel, die laut Inhaltsangabe "Feinste Mischung aus den feinsten Übersee-Tabaken" enthält, erinnert an die große Zeit der Industrie in Geldern. Hergestellt wurde sie in einer von Gelderns Tabakfabriken.

In der Herzogstadt produzierten einst acht Tabakfabriken Rauchwaren. Sie gehörten so zu den wichtigste Arbeitgebern. Bosch beschreibt in seinem ersten Band zur "Illustrierten Geschichte der Stadt Geldern" seine Heimatstadt als "Zentrum der niederrheinischen Tabakfabrikation" (neben Goch, Rees und Nettetal-Kaldenkirchen). Noch 1885 spricht Gelderns Bürgermeister Hambachs von einer "expandierenden Tabakfabrikation". Die Bedeutung wurde erst richtig offenbar, als es der Tabakindustrie nicht mehr so gut ging. Der Grund waren Steuererhöhungen.

Das Geld sollte in den Flottenbau des Deutschen Reichs gesteckt werden. In einem flammenden Brief nach Berlin bitten die Gelderner, von der Steuererhöhung abzusehen, die einmal mehr die Tabakindustrie treffen würde. Immerhin ein Sechstel der Bevölkerung, etwa 1000 Personen, seien von diesem Industriezweig in Geldern abhängig, heißt es in der Niederrheinischen Landeszeitung vom 11. Februar 1908, die auch Bosch in seinem Buch zitiert.

Die außerordentliche Bedeutung Gelderns als Treffpunkt der Rauchwarenindustrie wurde auch durch die Tatsache deutlich, dass am 19. November 1899 der "Christlich-soziale Verband der Tabak- und Zigarrenarbeiter Deutschlands" gegründet wurde. Der Vorsitzende war ein Gelderner, Peter Johann Lübeck. Der Verband war es auch, der gemeinsam mit dem niederrheinischen Cigarren-Fabrikanten-Verband zu einer öffentlichen Protestversammlung aufrief. Solche Versammlungen in den Jahren 1908 und 1909 stießen allerdings in der großen Politik in Berlin auf kein Gehör.

Am 15. August 1909 trat eine neue Tabaksteuergesetzgebung in Kraft, die auf regionaler Ebene gleich durchschlug. Männliche teurere Arbeiter wurden zunächst durch preiswertere weibliche Arbeitskräfte ersetzt. Der Untergang der Gelderner Tabakindustrie war allerdings nicht mehr aufzuhalten. Zwar gab es 1916 ein erneutes Aufbäumen gegen die Erhöhung von Tabakabgaben, aber wenige Jahre später kamen weitere Probleme wie Rohstoffmangel, mangelnde Absatz- und Auftragslage hinzu. Der in den 1890er Jahren so aufblühende Industriezweig erstarb.

1895 gab es in Geldern acht Tabakfabriken. Dazu zählten die Tabakfabrik Deckers, die ihren Sitz am Harttor (heute: Lidl-Parkplatz) hatte. Bereits 1894 wurde das Unternehmen A. und H. Kersten auf der Kapuzinerstraße gegründet. Heute steht dort ein Teil der Berufsschule. Die Gebrüder Berg hatten ihren Sitz auf der Bahnhofstraße. Heutzutage ist dort ein chinesisches Restaurant. Die Fabrik Boetkes war am Haagschen Weg, van Loock auf der Bahnhofstraße. Bereits 1881 gab es das Unternehmen Hagedorn, ebenfalls dem Tabak zugewandt war das Unternehmen Kürvers.

Die Grundsubstanz, der Tabak, wurde teils importiert, teils in Geldern und Umgebung angebaut. Zunächst wurden daraus Zigarren gedreht und Pfeifentabak hergestellt. Neben der Steuer und schlechten Löhnen, die immer wieder zu Streiks unter den Arbeitern führten, sorgte auch die Einführung der Zigarette für das Aus der heimischen Tabakindustrie.

Ein Aufleben des lokalen Anbaus erlebte sie Tabakpflanze nach dem Zweiten Weltkrieg. In Gärten, Höfen und Blumenkästen wurde gepflanzt. "Nahezu jeder Produzent verfügte über ein eigenes Rezept bei der Trocknung, Fermentierung und dem Schneiden der Tabakblätter. Das Endprodukt verbreitete viel Rauch sowie wenig Aroma und strapazierte die durch Unterernährung angegriffenen Lungen", beschreibt Bosch den Trend in dem zweiten Band seines Buches.

Die Zeit der Tabakindustrie in Geldern war aber endgültig vorbei. Die 50-Gramm-Schachtel mit den "feinsten Übersee-Tabaken" aus den Beständen der ehemaligen Tabakfabrik Emil Deckers, die auf dem Wohnzimmertisch vor Heinz Bosch liegt, wird wohl unangetastet bleiben. "Da ich Nichtraucher bin", erklärt der Gelderner. Dafür ist es ein schönes Erinnerungsstück aus der Zeit Gelderns als Industriehochburg.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort