Erfahrungsbericht Hochsensibilität aus Kerken Ein ganz dünnes Fell

Kerken · Ruth Janssen aus Kerken hat vor drei Jahren entdeckt, dass sie hochsensibel ist. Sie nimmt mehr wahr als andere Menschen – Lärm und Gerüche, Freude und Kritik. Vor allem im Beruf hat sie mit ihrer besonderen Empfindsamkeit zu kämpfen.

  Eine hohe Sensibilität kann Bereicherung und Last sein.

Eine hohe Sensibilität kann Bereicherung und Last sein.

Foto: dpa/dpa, Julian Stratenschulte

Wenn Ruth Janssen aus dem großen Wohnzimmerfenster in den Garten blickt und sieht, wie die Blätter des Baumes die Schatten auf dem Rasen tanzen lassen, springt ihr Herz vor Freude. Kaum auszuhalten, wie sie sagt. Doch wenn sie auf den Teller vor sich schaut, auf dem eine leere Brötchenhälfte liegt, ist sie ratlos. Minutenlang überlegt sie, ob sie eine Scheibe Wurst auf das Brötchen legen oder Marmelade darauf schmieren soll. Als ginge es um mehr als ein Brötchen.

Ruth Janssen (Name geändert) ist hochsensibel. Ihre Wahrnehmung ist feiner, intensiver und empfindlicher als die der meisten Menschen. So wie ein Baum im Sonnenlicht bei ihr grenzenlose Freude auslösen kann, wirken sich auch negative Einflüsse extrem auf ihr Empfinden aus. Was für andere unangenehm riecht, stinkt für die Kerkenerin unerträglich. Geräusche werden zu bohrendem Lärm, ein Wort der Kritik zu schlaflosen Nächten.

Dass sie hochsensibel ist, hat Ruth Janssen vor drei Jahren herausgefunden. An der Volkshochschule Geldern hatte sie an einem Vortragsabend teilgenommen. Das Thema: Hochsensibilität. „Ich hatte davon in der Zeitung gelesen und fühlte mich sofort angesprochen“, sagt Janssen. Als Dozentin Nicole Wolters dann vor ihr stand und fragte, ob sie gerade das Knallen der Autotür vor dem Gebäude gestört habe, war alles klar. „Da sind 100 Groschen auf einmal gefallen“, sagt sie.

Es dauerte noch einmal eineinhalb Jahre, bis Ruth Janssen den Mut aufbrachte, die Gesprächsgruppe von Nicole Wolters aufzusuchen. Mittlerweile hat sie sich selbst als Hochsensible akzeptiert. Wenn Ruth Janssen heute über hochsensible Menschen spricht, benutzt sie immer das Wort „wir“. „Streit, Kritik, Uneinheit können wir schlecht“, sagt sie dann. „Abkanzeln vertragen wir gar nicht.“

Im Berufsleben sei es am schwierigsten. Derzeit arbeitet Ruth Janssen gar nicht, sie ist krankgeschrieben. Denn ihr Job war aufreibend für die Kerkenerin. Wenn eine Kollegin sie kritisiert hat, ging es ihr die ganze Woche schlecht, sie konnte kaum schlafen. In ihrem Job hat sie immer alles durchdacht, Probleme von allen Seiten beleuchtet. Ihre Kollegen haben häufig mit den Augen gerollt, sie wollten sie antreiben, weniger Zeit zu vergeuden, schneller Entscheidungen zu treffen. Bei wichtigen Themen oder Entscheidungen, sagt sie, fange sie manchmal an zu zittern.

Seitdem Ruth Janssen die Gruppe besucht, macht sie immer wieder bei Kursen mit. „Das innere Kind“ oder „Achtsamkeit“ heißen sie. „Wir stellen die Wünsche anderer vor unsere eigenen“, erklärt sie. „Ich arbeite stark daran, auf meine eigenen Bedürfnisse zu hören.“ Sonst habe sie sich immer den Vorstellungen anderer gebeugt. Und sie brauche mehr Zeit zum Regenerieren.

„Wir Hochsensible brauchen viel Zeit für uns alleine“, sagt sie. „Der Perfektionismus und der Kontakt mit den Arbeitskollegen ist anstrengend, nach acht Stunden Arbeit bin ich total k.o.“

Dass Ruth Janssen so häufig unter ihrer Hochsensibilität leidet, war nicht immer so. „Früher war ich immer das Glückskind, ein Sonntagskind“, sagt sie. „Ich hatte unglaublich große Freude am Leben und an meinem Beruf. Und ich habe meine Empfindungen früher als sehr positiv empfunden, als Geschenk.“ Doch seit dem Tod ihres Ehemanns, der ihr viel Halt gegeben und Verständnis entgegengebracht hat, fällt ihr das zunehmend schwer. „Heute leide ich darunter.“ Das größte Problem sei, dass so viele Menschen sie nicht verstehen.

Die intensive Wahrnehmung zeigt sich ebenso im direkten Kontakt mit anderen Freunden und Familie. „Ich spüre Ablehnung, ohne dass etwas ausgesprochen wurde“, sagt sie. Sie sehe es an der Mimik, an der Gestik, kleine Reaktionen reichen. „Es ist gut, dass ich das jetzt weiß“, sagt Ruth Janssen. „Früher hatte ich häufig falsche Freunde. Ich achte nun mehr auf Harmonie und meide Umgang mit Menschen, mit denen es nicht passt.“

Doch im Beruf geht das nicht immer, Kollegen kann man sich nicht aussuchen. Auch die anderen Hochsensiblen in ihrer Gesprächsgruppe hätten häufig ähnliche Probleme an ihren Arbeitsplätzen, berichtet Ruth Janssen. „Vor allem in Jobs, in denen Härte und Schnelle verlangt wird“, sagt sie. „Da muss man ein dickes Fell haben, und das habe ich nicht. Ich bin zu mitfühlend.“

Schon bei der Berufswahl sollten hochsensible Menschen darum auf sich selbst achten: Soziale Berufe seien prädestiniert für alle, die so eine starke Wahrnehmung haben. Als Arzt, Psychologe, Pfleger oder Erzieher würden viele arbeiten. „Anderen etwas Gutes tun, das machen wir gern“, sagt Janssen.

Im Sommer will sie wieder mit der Arbeit starten. Dafür hat sich Ruth Janssen einiges vorgenommen: Sie will gelassener mit Kritik umgehen, die Sache nicht so wichtig nehmen und vor allem mehr mit ihren Kollegen reden.

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