Persönlicher Jahresrückblick der RP-Redaktion Geschichten, die uns 2019 bewegten

Gelderland · Fünf Redakteure, fünf Geschichten: Diese Recherchen und Ereignisse sind uns dieses Jahr besonders im Gedächtnis geblieben.

 Die Missbrauchsvorwürfe legten sich wie ein Schatten über Kevelaer.

Die Missbrauchsvorwürfe legten sich wie ein Schatten über Kevelaer.

Foto: Evers, Gottfried (eve)

Wenn wir uns freitags in der Redaktion verabschieden, wünschen wir dem Kollegen, der am Sonntag arbeitet, einen „ruhigen Dienst“. Viele Wochenenden verlaufen im geplanten Rahmen, oft kommt es ganz anders. Ich weiß das noch gut von einem meiner ersten Sonntagsdienste in Geldern 1987: Bei der Tamilenwallfahrt wurde ein Mann auf dem Kapellenplatz von Schwertern durchbohrt und getötet. Am 31. August wurde früh klar, dass dies ein besonderer Dienst sein wird. Mich erreichte die erste Nachricht von einem schweren Unfall in Geldern. An der Egmondstraße/Lindenallee war ein Planwagen in einem Wendehammer umgestürzt. 14 Menschen wurden verletzt. Kollege Heinz Spütz war vor Ort, ich konnte direkt in die Redaktion eilen, um schnell den ersten Online-Beitrag fertigzustellen. Informationen sammeln und zusammenstellen, das ist handwerkliche Routine. Doch als klar war, dass es um die Mitglieder des Musikzuges Blau-Weiß Hartefeld geht, also Menschen, von denen ich mit Sicherheit einen Teil kenne, ist es doch ganz anders. Zwar kommt man leichter an detaillierte Informationen, wenn man die Ansprechpartner kennt, doch man spricht mit Betroffenen und Freunden, denen der Schock noch die Tränen in die Augen treibt. Für den Print-Artikel gab es dann zum Glück überwiegend gute Nachrichten von den Verletzten. Doch dem folgte, was auch journalistische Pflicht ist: die Frage nach der Schuld. Machte der Fahrer Fehler, waren Trecker und Anhänger in Ordnung und für den Zweck geignet? Berechtigte Fragen, aber ohne erhobene Finger. Denn auch ich wäre voller Vertrauen und ohne Zögern mitgefahren. Gut, dass im Rückblick alles relativ glimpflich verlaufen ist. Auserzählt ist die Geschichte aber noch nicht.

 Der Planwagen mit den Musikern von Blau-Weiß Hartefeld stürzte um.

Der Planwagen mit den Musikern von Blau-Weiß Hartefeld stürzte um.

Foto: Schulmann

Dirk Möwius

Das Schöne am Journalismus ist, dass man mit Artikeln manchmal etwas bewegen kann. Mal bringt man die Leser zum Lachen, mal berührt man sie, mal deckt man eine Ungerechtigkeit auf. Im Frühjahr 2019 habe ich mit einer Recherche begonnen, die hoffentlich noch ein Ergebnis nach sich zieht: nämlich die Aufklärung eines Verbrechens. Ich habe mich mit einem „Cold Case“ beschäftigt, also einem ungeklärten Mordfall.

Am 8. Dezember 1996 entdeckte ein Jäger eine Leiche in der Sandgrube in Schaep­huysen. Allein auf den Kopf des Mannes hat der Täter 16 Mal eingeschlagen, vermutlich mit einem Stahlrohr. Der Tote lag nackt im Gestrüpp, es gab keinerlei Spuren, und niemand scheint den Toten zu kennen. Es ist der einzige Mord im Kreis Kleve, den die Ermittler nie aufklären konnten. Und bis heute weiß man nicht, wer der Mann ist.

Die Zahnprothesen des Toten lassen darauf schließen, dass er aus Osteuropa stammt, vermutlich aus Polen. Irgendwo in einer polnischen Stadt gibt es also wahrscheinlich eine Familie, die ihren Sohn, Mann, Freund oder Vater vermisst. Die wahrscheinlich auch eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat. Ein Abgleich der Behörden war damals noch fast unmöglich. Darum hat Jenna Leuchter, eine junge Kriminalkommissarin den Fall neu aufgerollt. Was damals noch nicht möglich war, hat sie veröffentlicht: Ein digitales Phantombild, das anhand der Fotos des Toten rekonstruiert wurde. Nun ist es, als schaue man nicht mehr auf eine Zeichnung, sondern auf ein Foto.

 Von dem Mordopfer aus der Sandkuhle gibt es ein neues Phantombild.

Von dem Mordopfer aus der Sandkuhle gibt es ein neues Phantombild.

Foto: LKA/Polizei Krefeld

Seit der Veröffentlichung sind einige Hinweise bei der Polizei Krefeld eingegangen. Eine interessante Spur sei dabei, die die Kriminalpolizisten noch weiter verfolgen, hieß es aus der Pressestelle. Vielleicht gibt es 2020 ja ein Ergebnis.

  Verena Kensbock

Auf dem Weg zum Tatort ging mir immer nur ein Gedanke durch den Kopf: „Wer macht so etwas? Und warum?“ Fragen, die sich vermutlich alle stellen, wenn ein Verbrechen geschieht. In die Gedankenwelt der Täter finden Außenstehende keinen Zugang, es sei denn, es handelt sich um speziell ausgebildete Psychologen.

Dem Verbrechen, von dem hier die Rede ist, fielen mehr als 100.000 Lebewesen zum Opfer. Unbekannte verwüsteten im Mai an der Wichardstraße in Geldern Bienenstöcke und vernichteten dadurch zwei Bienenvölker. Mit Lack, Flüssigseife und Chlorgranulat attackierten sie die Insekten. Sie zerstörten eine Sitzbank und ließen einen Farbeimer, eine Lacksprühdose und eine leere Plastikflasche für Flüssigseife zurück.

„Waren ja nur Bienen“, mögen vielleicht manche schulterzuckend sagen. Ganz abgesehen von dem ökologischen Wert der schwarz-gelben Honigsammler: Mitgefühl verdienen auch Tiere, die nicht mit Knopfaugenblick den höchsten „Oh wie süß“-Faktor erzielen. Und wer die Erschütterung von Frieda und Jakob Janz über den Tod ihrer Bienen erlebt hat, kann diesen Tag nicht vergessen. Für sie brach eine Idylle zusammen. Sie taten Gutes für die Welt. Doch die Welt reagierte mit sinnloser Gewalt und Zerstörungswut.

 Jakob Janz steht neben seinen zerstörten Bienenstöcken.

Jakob Janz steht neben seinen zerstörten Bienenstöcken.

Foto: Evers, Gottfried (eve)

„Da will man mit seinem Hobby mithelfen, die Welt zu verbessern, und dann passiert so etwas“, meinte Jakob Janz angesichts des Chaos empört. Seine Frau zeigte nur wortlos mit Tränen in den Augen auf das, was die Ganoven angerichtet hatten.

Die Täter wurden übrigens bisher nicht gefasst, teilte die Polizei am Montag auf Nachfrage mit. Die dummen Feiglinge von Geldern kamen vermutlich im Schutz der Nacht auf das etwas abgelegene Grundstück an den Bahngleisen.

Michael Klatt

Parookaville ist groß, ist laut, ist bunt, ist verrückt – und auch schräg. Für viele Festival-Besucher fühlt sich der Aufenthalt an wie ein kurzer Ausbruch aus der Realität. Als ich im Juli meine Parookaville-Premiere feierte, habe ich einen Eindruck davon bekommen, was dieses Festival für viele so besonders macht. Mein Auftrag: über die Parookaville-Hochzeit zu berichten. Es war zwar schon die vierte offizielle Trauung der Festival-Geschichte, jedoch das erste gleichgeschlechtliche Paar, das in der Parooka-Church heiratete. Die beiden Protagonisten: Andre und Tobias aus Berlin.

 Tobias (l.) und Andre heiraten 2019  offiziell in der Parookaville-Kirche.

Tobias (l.) und Andre heiraten 2019  offiziell in der Parookaville-Kirche.

Foto: dpa/Marius Becker

Bei vielen Hochzeiten durfte ich privat schon mit dabei sein. Die Parookaville-Hochzeit war jedoch anders als alle bisherigen. Sie war skurriler und bestand aus jeder Menge Spektakel, was sie manchmal etwas surreal wirken ließ. Um das Motto der Hochzeit („Offenheit, Toleranz und die Befreiung von Tabus“) umzusetzen, hatten die Wedding-Planer aus Düsseldorf die Festival-Kirche komplett in bunt und hippiemäßig dekoriert. Den Eingang zierte eine in Regenbogen-Farben gestaltete Holzrampe. Begleitet wurde die Trauung von zig Medienvertretern. Als Trauzeuge wurde dem Paar der Rapper MC Fitti zur Seite gestellt. Er kam in einem lilafarbenen Anzug mit kurzer Hose inklusive gleichfarbiger Cap und Sonnenbrille.

Perfekt gemacht wurde das positive verrückte Spektakel durch den Auftritt von Hund Heinrich. Der Vierbeiner des Paares dufte die Ringe in die Kirche bringen. Andre und Tobias hatten ihm dafür ein Kissen samt der Ringe auf dem Rücken befestigt. So etwas gibt es wohl nur bei bei Parookaville – und passt wohl auch nirgendwo besser hin. Für das Paar war es genau die Trauung, die sie sich gewünscht hatten. Und das ist doch die Hauptsache!

  Adrian Terhorst

Das Unsagbare sagen, das Undenkbare denken. Nie war dieses Gefühl näher als in diesem Jahr. Selten war es schwieriger, sich emotional von einem Thema zu trennen und es rein sachlich, nachrichtlich zu bearbeiten. Denn das Thema „Missbrauch“ legte sich wie ein Schatten über Kevelaer.

Nachdem die Vorwürfe gegen den früheren Wallfahrtsrektor Heinrich Maria Janssen noch irgendwie gefühlsmäßig weit weg waren, weil der spätere Bischof längst verstorben ist, hatte der Fall der jungen Frau, die als Mädchen während der Beichte missbraucht worden sein soll, eine ganz andere Wirkung.

Viele in Kevelaer haben den Geistlichen selbst noch erlebt. Viele berichten, wie entsetzt sie sind, dass sie nie etwas gemerkt haben. Der Abend, an dem sich Bistum und Wallfahrtsrektor der Gemeinde stellten, zeigte deutlich auf, wie tief der Fall in das aktuelle Gemeindeleben wirkt. Vor allem die Frage, warum das Bistum nie etwas verlauten ließ, obwohl die Vorwürfe schon seit Jahren bekannt waren, sorgte für heftige Kritik. Das Bistum räumte Fehler ein, der Bischof selbst entschuldigte sich, weil man dem Priester nicht deutlicher gesagt hatte, dass er keine Messen mehr feiern darf.

Noch mehr unter die Haut gingen die Vorwürfe gegen einen Sozialpädagogen. Es stellt sich die Frage, wie hier eine objektive Berichterstattung möglich sein soll, wenn man jemanden gut kennt und sich von den unglaublichen Beschuldigungen vor den Kopf gestoßen fühlt. Man fragt sich: undenkbar? unsagbar?

Wer die vielen Vorwürfe in der Anklageschrift sieht, glaubt, bislang einen anderen Menschen gekannt zu haben. Du fragst dich: Wie werde ich den Opfern in der Berichterstattung gerecht?

Die Frage wird 2020 bleiben.

Sebastian Latzel

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