Nationalsozialismus in Straelen Die Geschichten hinter den Stolpersteinen

Straelen · Fünf jüdische Familien haben vor dem Zweiten Weltkrieg in Straelen gelebt. Nur wenige haben überlebt. Bernhard Keuck erinnert.

 Die Jugend der Nachbarschaft Bahnstraße baute sich stolz vor dem Auto zum Erinnerungsfoto auf. Mit dabei: Die Mendel-Kinder.

Die Jugend der Nachbarschaft Bahnstraße baute sich stolz vor dem Auto zum Erinnerungsfoto auf. Mit dabei: Die Mendel-Kinder.

Foto: Stadtarchiv Straelen

Jeden Tag musste Eugen Keuck nach Krefeld fahren, wo er als Lehrling in einer Buchdruckerei arbeitete. Jeden Tag lief er durch die Straßen von Straelen über den Marktplatz zum Bahnhof. An diesem Tag, es war der 10. November 1938, waren die Fenster des Hauses von Familie Mendel auf der Bahnstraße 9 eingeschlagen, die Tür aufgebrochen. Überall auf der Straße lagen Möbel und Kleidung verteilt. Eugen Keuck blieb stehen, wollte Mäntel und Matratzen zurück ins Haus bringen, als er eine Stimme aus dem Haus gegenüber hörte: „Guck, dass du ganz schnell wegkommst.“

In der Nacht, die heute als Reichspogromnacht bekannt ist, hatten Nationalsozialisten überall in Deutschland Juden überfallen, Synagogen und Betstuben, Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört. Auch die Synagogen in Geldern und Krefeld standen in Flammen. In Straelen war es der Anführer der dortigen Hitlerjugend, Otto Plaß, der zur Randale angeheizt hatte.

 Josef Sanders rechts vor dem Haus Klosterstraße 3 um 1935.

Josef Sanders rechts vor dem Haus Klosterstraße 3 um 1935.

Foto: Stadtarchiv Straelen

Eugen Keuck wurde damals klar, was das für die fünf jüdischen Familien, seine Nachbarn in Straelen bedeutete, erzählt sein Sohn Bernhard Keuck, früherer Leiter des Stadtarchivs. Oskar und Sophia Mendel hingegen fürchteten sich nicht. „In Straelen kann uns nichts passieren“, soll Sophia Mendel gesagt haben. Das Ehepaar mit drei Kindern, Hans, Ilse und Edith, war gut vernetzt im Ort, sie spendeten an das Krankenhaus, hatten viele Freunde. Sie fühlten sich sicher.

Doch wie Eugen Keuck waren auch die älteren Kinder Hans und Ilse besorgt nach dem, was in der Nacht auf den 10. November passiert war. Sie schmiedeten Pläne, in die USA zu fliehen. „Es haben sich wahrscheinlich viele Diskussionen, ergreifende Szenen im Haus der Mendels abgespielt“, sagt Bernhard Keuck. „Die Eltern wollten nicht mitkommen und behielten auch die jüngste Tochter Edith bei sich.“

Nach den Forschungen von Bernhard Keuck haben Hans und Ilse es 1938 geschafft zu entkommen. Vermutlich über die Niederlande flohen sie nach England und stiegen dort auf ein Schiff, das sie in die USA brachte. Der Rest der Familie blieb in Straelen. Doch die Hoffnung, dass ihnen nichts passieren würde, war falsch. Die Mendels wurden enteignet, verloren ihr Haus und wurden – vermutlich mit anderen Juden aus Straelen und Umgebung – in ein Ghettohaus auf der Venloer Straße gezwängt.

Sie alle saßen in dem ersten Deportationszug, der am 11. Dezember 1941 von Düsseldorf-Derendorf ins lettische Riga fuhr. Dort kamen Oskar und Sophia Mendel erst in ein städtisches Ghetto, dann ins Konzentrationslager Salaspils. Sie wurden später für tot erklärt. Oskars Bruder Eduard Mendel, der an der Venloer Straße 24 gewohnt hatte, wurde zur gleichen Zeit nach Theresienstadt deportiert, wo er am 17. Januar 1943 starb.

 Hans Mendel und seine Schwester haben es geschafft, zu entkommen.

Hans Mendel und seine Schwester haben es geschafft, zu entkommen.

Foto: Stadtarchiv Straelen

Ein ähnliches Schicksal erlebten vier weitere Familien aus Straelen. Über sie, sagt Bernhard Keuck, sei aber weniger bekannt. Sicher ist, dass an der Annastraße 7, wo heute ein Parkplatz ist, die Familie Hoffstadt lebte. Emanuel Hoffstadt, ein Viehhändler, wohnte dort mit seiner Frau Amalia und dem gemeinsamen Sohn Siegfried. Die Eheleute starben noch in der Nazizeit in Straelen eines natürlichen Todes. Siegfried Hoffstadt aber saß in demselben Zug nach Riga wie die Mendels. Auch er wurde für tot erklärt.

Ebenso wie eine weitere jüdische Familie mit dem Namen Hoffstadt, die ihr Zuhause an der Walbecker Straße 29 hatte. Samuel und Helene Hoffstadt mit ihren Kindern Erich, Henriette, Emil und Frieda starben auch in Riga-Salaspils.

Das Ehepaar Josef und Johanna Sanders mit Sohn Sally lebte an der Klosterstraße 3. Das einzige, was man von der Familie weiß, ist dass die Eltern am 24. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Sohn Sally soll nach Bremen gezogen sein, seine Spur habe sich aber gänzlich verloren.

Josef Sanders Bruder Samuel lebte mit seiner Familie an der Mühlenstraße 10. Er und seine Frau Rosa Sanders starben Mitte der 30er Jahre in Straelen. Ihre Tochter Minna saß ebenfalls in dem Zug nach Riga, sie wurde in Lettland getötet. Bertha starb am 31. Januar 1941 im russischen Cholm.

Nur Sohn Isidor Sanders konnte mit seiner Frau Fanny und dem gemeinsamen Sohn Richard fliehen. Isidor Sanders wurde nach der Reichsprogromnacht festgenommen und in ein Konzentrationslager gebracht. Dort blieb er einige Wochen, wurde aber wieder freigelassen. Nach diesem Erlebnis stand sein Beschluss fest: Die Familie muss Deutschland verlassen. Die Sanders bestiegen 1939 eines der Schiffe, die über den Atlantik schipperten, als Kuba und die USA ihre Grenzen schlossen. „Es ist wahrscheinlich, dass sie monatelang an Bord waren und nirgendwo anlegen durften“, sagt Bernhard Keuck. Schließlich sei die Familie auf Haiti gelandet, hätten einige Monate auf der Karibikinsel verbracht, bis sie schließlich in die USA einreisen konnten. Richard Sanders arbeitete später als Sportleher in New York. Seine Eltern zogen an einen See in Wisconsin. Bis in die 60er Jahre schrieben sie Briefe mit einem Metzger in Straelen, in denen sie von Heimweh berichten.

Eugen Keuck hat Edith Mendel noch einmal wieder getroffen. Keuck, damals Soldat, sah sie Steine schleppend am Bahnhof in Riga. Er erkannte sie an dem Namen auf ihrem Judenstern. Edith Mendel wurde 1943 im Konzentrationslager Stutthoff ermordet.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort