“Zeitspiel“ in Erkelenz Beklemmendes Theater gegen das Vergessen

Erkelenz · 1200 Zuschauer sehen „Zeitspiel - Das Mädchenorchester von Auschwitz“ in der Stadthalle. Bemerkungen am Rande beweisen, dass das Erinnern an die Gräueltaten der Nazis nie aufhören darf.

Das Junge Orchester Mariengarden, kann musizieren und schauspielern, hat sich aus Schülern gegründet und das „Mädchenorchester von Auschwitz“ vor sechs Jahren erstmals einstudiert.

Das Junge Orchester Mariengarden, kann musizieren und schauspielern, hat sich aus Schülern gegründet und das „Mädchenorchester von Auschwitz“ vor sechs Jahren erstmals einstudiert.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

Beklemmung macht sich breit beim Kostenpflichtiger Inhalt Betreten des alten, hölzernen Viehwaggons, der vor der Stadthalle steht. Jeder, der sich zur Theateraufführung von „Zeitspiel – Das Mädchenorchester von Auschwitz“ begibt, kann durch diesen Waggon gehen. Die Vorstellung, dass in einem solchen Wagen während des Naziregimes Menschen auf ihrer letzten Reise, die mit dem Tod im Konzentrationslager endete, tagelang bei wenig Brot und Wasser mit einem einzigen Topf für die Notdurft zusammengepfercht waren, lässt schaudern.

Die Deportation als Teil der Vernichtungsstrategie, mit der das Judentum in Deutschland ausgerottet werden sollte, wird greifbar. „Irgendwann muss doch einmal Schluss sein damit“, murmelt eine ältere Besucherin. Sie meint das Erinnern an die Gräueltaten. Sie will die Vergangenheit ruhen lassen. „Nein!“ widerspricht Sabine Leutheusser-Schnarrenberg energisch. Die ehemalige Bundesjustizministerin ist Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung und ist nach Erkelenz gekommen, um an den Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht teilzunehmen.

Jetzt steht sie vor der Aufführung von „Zeitspiel“ auf der Bühne und hält ein Plädoyer gegen das Vergessen. „Niemand von euch trägt schuld für das, was im Naziregime passiert ist“, sagt sie den zumeist jugendlichen Besuchern. „Wir alle haben aber die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass es nicht wieder zu solchen Verbrechen kommt.“ Schweigen und Wegschauen sind fatal. Aufstehen, den Mund Aufmachen, rechtsradikales Gedankengut bekämpfen, sei unabdingbar. Aus Verdrängen wird Vergessen und aus Vergessen wird Verleugnen.

An zwei Tagen haben sich jeweils 600 Besucher in der ausverkauften Stadthalle das vom Jungen Ensemble Mariengarden unter der Regie des Erkelenzer Kulturmanager Sascha Dücker aufgeführte Theaterstück angesehen. Das Ensemble ist in der Lage, das Orchester ebenso darzustellen wie die anderen Protagonisten, etwa Lagerkommandant Josef Kramer, den Lagerarzt Josef Mengele oder die Orchesterleiterin.

Szenen und Sätze bleiben haften. In ihrer Vielfalt zeichnen sie ein Bild des Grauens und des Antisemitismus, aber auch der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. „Wir schaffen es seit heute, täglich 12.000 zu vergasen“, sagt der KZ-Soldat, ohne Widerspruch zu ernten von den Orchestermädchen in einheitlicher KZ-Kleidung. Sie habe das Mädchen gerettet, sagt die Lagerleiterin stolz, als sie ein Kind zur Probe mitbringt. Was mit der Mutter geschehen ist, danach fragt keiner. Und als das Mädchen bei der nächsten Probe fehlt, sagt sie: „Ich habe es abgegeben. Die Größe eines Volkes zeigt sich in seiner Opferbereitschaft.“

Ohrenbetäubend donnern unerwartet Bomber über die Szenerie, so dass sich manche Besucher erschrocken die Ohren halten. Die Geräusche von Explosionen lassen zusammenzucken – und wenig später wird mit einkehrender Ruhe die Orchesterprobe fortgesetzt. Jede will irgendwie überleben oder hofft, überleben zu können. Niemand wagt, sich zu widersetzen. Eine Szene, die Dücker in das Stück hineingeschrieben hat, zeigt die Tragödie, die Ohnmacht, die Angst: Eine Dolmetscherin wird nach einem gescheiterten Fluchtversuch vor den Augen tausender KZ-Insassen gehängt. „Wehrt euch doch“, ruft sie mit dem Strick um den Hals in die Menge. „Ihr seid viele. Ihr könnt die Schergen überwältigen.“ Aber die Masse Mensch bewegt sich nicht. Die Angst, bei einem Aufstand getötet zu werden, ist groß, auch in dem Wissen, später vielleicht in der Gaskammer zu enden. Jeder klammert sich an sein Leben, an das Prinzip Hoffnung – auch wenn es im Prinzip keine Hoffnung gibt.

Nach der Aufführung herrscht Bedrückung, aber auch Dankbarkeit, eine Erfahrung gemacht und die Erinnerung verstärkt zu haben. „Irgendwann muss doch einmal Schluss damit sein“, wiederholt ein Senior die Aussage der älteren Besucherin aus dem Viehwaggon. Das vehemente „Nein“ einer Schülerin lässt ihn verstummen – und macht Hoffnung.

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