Wassenbergerin nimmt knapp 100 Kilo ab „Ich war nicht mehr in der Lage, vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer zu gehen“

Erkelenz/Wassenberg · 197 Kilogramm hat Tanja Brodermanns vor anderthalb Jahren gewogen, litt an schweren Depressionen. 94 Kilogramm hat sie seit einer Magenverkleinerung an Gewicht verloren. Und hat jetzt den Traum, in Erkelenz Ballett zu tanzen.

 Tanja Brodermanns (l.) arbeitet mit ihrem Mann Thorsten hart an ihrer Form, unter anderem in der Ballettschule von Martina Hardt in Erkelenz.

Tanja Brodermanns (l.) arbeitet mit ihrem Mann Thorsten hart an ihrer Form, unter anderem in der Ballettschule von Martina Hardt in Erkelenz.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

Tanja Brodermanns steht stramm vor dem großen Spiegel des Ballettsaals. Angestrengt blickt sie sich an, schließt die Augen und öffnet sie wieder. Immer wieder huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Mit langsamen Bewegungen wippen ihre Knöchel immer wieder auf und ab, mit denen sie einen rosa Ball einklemmt, während sie auf einem Korkziegelstein steht. Durch das coronabedingt geöffnete Fenster bläst ein kühler Luftzug hinein, vermischt sich mit der sanften Klaviermusik, die aus den Boxen strömt. Ihr Mann Thorsten steht neben ihr, macht die Übung mit. Trainerin Martina Hardt gibt von hinten Kommandos. In diesem Moment ist Tanja Brodermanns ganz für sich, genießt still. „Diese wahnsinnig schöne Musik“, sagt sie. Dass die 44-Jährige einmal in einem Ballettstudio stehen würde? „Vor anderthalb Jahren völlig undenkbar.“ 197 Kilogramm hat sie im Oktober 2020 auf die Waage geschleppt. 103 sind es in dieser Woche. Es soll nur ein Zwischenschritt sein auf dem Weg zurück ins Leben.

Es ist der 18. Oktober 2020. Tanja Brodermanns steht vor der Tür ihres Zimmers in der Uniklinik Aachen. Mit ganzer Kraft hat sie sich aufgerafft für ein letztes Foto. Morgen steht die OP an, die ihr ganzes Leben verändern wird. Ein letztes Mal will sich die Wassenbergerin so zeigen, wie sie nie wieder sein will. Doch schon das Aufstehen für das Foto ist zu viel. Brodermanns japst, sackt zurück ins Bett, hat Atemnot. „Ich konnte nicht mehr laufen. Jede Art von Bewegung war zu viel für meinen Körper“ sagt sie heute. Tag und Nacht hat Tanja Brodermanns in dem dunklen Sessel verbracht, der eigentlich viel zu klein für sie geworden war. „Ich war nicht mehr in der Lage, vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer zu gehen. Ich hatte einen Hocker mit Rollen, um mich durch das Haus zu bewegen“, sagt sie.

Wie es dazu kommen konnte? Mit Übergewicht hatte Tanja Brodermanns, die Mutter zweier Kinder ist (Lena ist 18, Lars 9), eigentlich nie zu kämpfen. Ihr Feind sind dafür Depressionen und Angststörungen. Das fing 2006 an, richtig los wird Brodermanns diese heimtückische, für andere Menschen kaum zu begreifende Krankheit danach nicht mehr. Ihren größten Absturz hat Brodermanns 2016, ausgelöst auch durch familiäre Probleme. Um sie herum wird es dunkel, sie verliert das Interesse und den Antrieb, döst bis zu 20 Stunden am Tag. Die Wassenbergerin erhält einen Pflegegrad, nimmt Psychopharmaka, kann nicht mehr arbeiten, wird zur Frührentnerin. Das führt zur massiven Gewichtszunahme, bis am Ende beinahe die 200 auf der Waage steht.

Der Tag vor der Operation: 197 Kilogramm brachte Brodermanns im Oktober 2020 auf die Waage.

Der Tag vor der Operation: 197 Kilogramm brachte Brodermanns im Oktober 2020 auf die Waage.

Foto: Brodermanns

Brodermanns selber bekommt das so richtig gar nicht mit. „Ich habe gedacht, mit Schlafen kann man ja nicht viel falsch machen. Und auf einmal wachst du auf, es sind vier Jahre vergangen und du erkennst den Menschen im Spiegel nicht wieder“, erklärt sie. Brodermanns bekommt Angst. Wenn sie so weitermacht, sagen die Ärzte, erlebt sie das Ende des Jahres 2020 nicht mehr.

„Mama, ich will nicht, dass du stirbst“, sagt ihr ihr Sohn Lars. Tränen laufen über Tanja Brodermanns‘ Gesicht, als sie vom vielleicht wichtigsten Gespräch ihres Lebens erzählt. Sie fasst den Entschluss zur OP. Ab einem bestimmten Gewicht ist der Körper nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft wieder gesund zu werden, dann ist eine sogenannte Sleeve-Gastrektomie der beste Weg. Drei Viertel ihres Magens werden ihr in der Uniklinik Aachen abgetrennt. Vier Tage lang liegt sie auf der Intensivstation. Dann beginnt der Kampf zurück ins Leben.

Tanja Brodermanns muss ihre Ernährung radikal umstellen, keine Mahlzeit hat mehr als 200 Gramm. Sie muss täglich behandelt werden, beginnt Sport zu machen. Die Kilos verliert sie in dieser Zeit im Wochentakt. Was sie im Gegenzug zurückerhält, ist Lebensmut. Brodermanns macht Aquafitness, die Spaziergänge mit ihrem Berner Sennenhund Oli werden immer länger.

Viele Menschen hätten sich von ihr abgewendet, sagt Tanja Brodermanns. „Wenn man von vermeintlichen Freunden über Umwege erfährt, dass sie nichts mehr mit einem zu tun haben wollen, ist das hart“, sagt sie. Geblieben sind gute Freundinnen wie Judith, Sonja oder Fikriye. Und natürlich ihre Familie. Ihr Mann Thorsten ist es, der die Idee mit dem Ballett hat. Auch er kauft sich Schuhe, gemeinsam trainieren die beiden seit dem vergangenen Herbst im Ballettstudio von Martina Hardt in Erkelenz. Zu Beginn hatte Tanja Brodermanns Angst: „Ich hatte viel erreicht, aber für Ballett hielt ich mich alles andere als geeignet.“ Sie fürchtete, dass ihre Trainerin sie wieder wegschicken würde.

Doch Martina Hardt sah es als Projekt: „Wenn jemand etwas unbedingt will, dann ist es meine Aufgabe als Trainerin, dafür zu sorgen, dass sie es schafft, ohne sich zu verletzen.“ Im Studio fühlt sich Tanja Brodermanns wohl. Gerade deshalb, weil es vor anderthalb Jahren so undenkbar schien, dass sie nun hier ist. „Ich habe meine Menschenwürde zurück“, sagt sie stolz. Ballett tanzt Tanja Brodermanns noch nicht, bislang bleibt es bei den Aufbauübungen. „Aber man darf ja noch träumen“, sagt sie.

Bis unter 80 Kilogramm will die 44-Jährige noch kommen. Operationen stehen an, um etwa die viele überschüssige Haut zu entfernen. Ihre Depressionen sind seit der OP verschwunden. Das kommt vor allem durch die viele Bewegung, glaubt sie. Sechs mal pro Woche macht Brodermanns Sport. Ihr Leben lang wird sie Ergänzungsmittel nehmen, gut auf ihren Magen aufpassen und häufig zum Arzt gehen müssen. Tanja Brodermanns will nun vielen anderen Menschen Mut machen. Ob Depressionen oder Fettleibigkeit – es gibt immer einen Ausweg. „Wenn ich es geschafft habe, aus diesem Loch herauszukommen, dann kann es jeder schaffen“, sagt sie.

Ihren Sessel hat Brodermanns übrigens nicht weggeworfen. Heute steht er im Schlafzimmer, dient als Wäscheablage. „Er ist ein Gegenstand, der mich erinnert, dass es niemals mehr so weit kommen darf“, sagt sie.

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