Erkelenz Industrialisierung veränderte die Arbeitswelt

Erkelenz · Landwirtschaft und Heimarbeit prägten im 19. Jahrhundert das Berufsleben an Rur, Niers, Schwalm und Wurm - dann kam die Industrie.

 Die 1851 eingerichtete Kleiderfabrik Schwarz Am Lieberg in Hückelhoven mit der Wohnvilla der Familie rechts oben. Als "Villa Luisenhöhe" ist sie heute noch bewohnt. Die Fabrik beherbergt heute das Opel-Museum Zurkaulen.

Die 1851 eingerichtete Kleiderfabrik Schwarz Am Lieberg in Hückelhoven mit der Wohnvilla der Familie rechts oben. Als "Villa Luisenhöhe" ist sie heute noch bewohnt. Die Fabrik beherbergt heute das Opel-Museum Zurkaulen.

Foto: Archiv Spichartz

/ HÜCKELHOVEN Zukunft definiert sich täglich neu. Der Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte auch im Erkelenz-Hückelhovener Land - mit Verzögerung gegenüber umliegenden Regionen wie Mönchengladbach und Aachen - tiefgreifende Veränderungen für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, völlig neue Arbeitsstätten in industriell-betrieblicher Organisation mit sich. Diese wurden erst allmählich als Chancen begriffen, zeigen die wenigen Dokumente, die Rückschlüsse auf die geistige Haltung der jungen Leute als selbstbestimmte Individuen gestatten. In Briefen von jungen Männern, die aus Kriegen wie 1866 bei Königgrätz schrieben, werden die Eltern gesiezt, sie sind erkennbar die Autoritäten, die auch die beruflichen Zukunftsdirektiven ausgaben, leiteten, begleiteten. Heimarbeit war üblich, Kinderarbeit war üblich in der Heimarbeit familiärer Landwirtschaft, in den dazu gehörigen Hausnebengewerben, in der Heimspinnerei und -weberei des stark verbreiteten Textilgewerbes durch zunächst den Flachsanbau, von daher war die Heimbindung junger Menschen stark, Zukunftsperspektiven lagen daheim. Höhere Bildung blieb den Kindern "höherer", bürgerlicher Schichten vorbehalten. Wenn auch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Industrie gesprochen wurde, meinte das Branchen mit einem signifikanten Anteil an der Volkswirtschaft, allerdings ohne größere Betriebsorganisationen im heutigen Sinn. Und im Erkelenz-Hückelhovener Land hatte sich aus dem Flachsanbau, wie in weiten Teilen des näheren Niederrheins, eine Textil-"Industrie" aufgetan, die von "Verlegern" oder "Faktoreien" als Unternehmern auf der einen Seite und Heimarbeitern als "Beschäftigten" auf der anderen gekennzeichnet war. Der "Verleger" ging in Vorlage, indem er den Heimwebern das Garn lieferte, die fertigen Tuche auch abnahm, weiterverarbeitete oder verkaufte. Faktoreien waren ähnlich organisiert, lieferten ihrerseits die Tuche an andere Unternehmen zur Weiterverarbeitung. Heimarbeiter waren im Prinzip das, was heute als Scheinselbständige gewertet wird, sie erhielten Arbeits-Lohn.

Und das Verlags- oder Faktoreisystem hatte entscheidenden, negativen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur des Erkelenz-Hückelhovener Lands, auch für Wassenberg, Geilenkirchen, Heinsberg, Selfkant, indem die insgesamt steigende Einwohnerzahl an Rur, Schwalm, Niers und Wurm zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu sinken begann. Vor allem Mönchengladbach hatte sich zum Zentrum der Textilbranche entwickelt, die später einmal mehr als 70.000 Arbeitsplätze bieten sollte. Starke Gewichte waren auch in Rheydt und Krefeld für Unternehmen der Weiterverarbeitung und vor allem der Veredlung entstanden. Selbst Heimweber gaben ihre Standorte hier auf und siedelten sich in den neuen Zentren an.

Gleichzeitig entwickelten sich im Süden, in Eschweiler, Alsdorf, Kohlscheid und Richterich, kleine Kohlegruben zu gewaltigen Industriebetrieben, Stahlproduktion, Kupfer- und Zinnverarbeitung sogen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich auch jüngere Männer von Rur und Co. an, von den Eltern gewünscht, akzeptiert, da die steigende Kinderzahl mit Geburtenüberschuss Nahrung und Arbeit knapp werden ließ. Die mangelnde Verkehrsinfrastruktur ließ kein Pendeln, sondern nur Umzug zu, die Zukunft lag dann doch anderswo. Das schwächte sich erst zum Ende des Jahrhunderts ab, als mit den ersten Versuchsbohrungen des Alsdorfer Bergbauexperten Friedrich Honigmann nach Steinkohle in Hückelhoven sich "die Industrie" abzeichnete. Ihm folgte, durchaus im Wortsinn, der Bohrexperte Anton Raky aus Straßburg nach Erkelenz.

(isp)
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