Schwerpunkt Hört Die Politik Den Menschen Noch Ausreichend Zu ? "Es bedarf eines neuen Aufeinanderzugehens"

Erkelenz · Ist es eine Orientierungskrise, in der Politiker und Bürger stecken, die es immer schwerer macht, sich gegenseitig zu verstehen? Oder fehlt es an der Bereitschaft zum Dialog?

Schwerpunkt Hört Die Politik Den Menschen Noch Ausreichend Zu ?: "Es bedarf eines neuen Aufeinanderzugehens"
Foto: Laaser

Im Internet, im Fernsehen, in Zeitungen - allenthalben ist von der These zu lesen, dass Politiker und Bürger sich nicht mehr ausreichend zuhören. Vor allem die Politiker den Bürgern nicht mehr. Und das nicht erst seit der Präsidentschaftswahl in den USA, deren Ausgang viele Beobachter vor eben dieser These kommentierten. Mit großer Sorge beobachten unsere Politiker einen solchen Prozess der Entfremdung auch in Deutschland.

Dr. Gerd Hachen (CDU) spricht von einer "Orientierungskrise", in der sich Politiker wie Bürger befinden, die sich in einem Zuviel an Informationen und Kommentaren nicht mehr zurechtfinden und dadurch immer öfter nicht mehr zueinander kommen. Dr. Ruth Seidl (Grüne) fordert von beiden Seiten, wieder stärker den Dialog zu suchen, und sieht zugleich das Problem, dass "es zunehmend Protestgruppierungen wie Pegida und Co. gibt, die kein Interesse an einem Dialog mit Andersdenkenden haben". Unwilligkeit zum Dialog stellt Norbert Spinrath (SPD) in Teilen der Gesellschaft fest, der sagt: "Ich lasse mich auf die Menschen ein und höre in unzähligen Gesprächen im Wahlkreis und in Berlin zu. Es wird aber immer stärker, dass Menschen bei den Politikern nur Wut und Hass loswerden wollen und gar kein weiteres Gespräch suchen." Mut macht Wilfried Oellers (CDU), der sagt, dass Politiker noch ausreichend von den Bürgern angehört werden, wenn sie nur auf diese zugehen. "Ich will auf diese Weise der Politikverdrossenheit entgegenwirken", sagt der jüngste unter den Parlamentariern aus dem Kreis Heinsberg, jedoch muss auch er aus seinen ersten Jahren Berliner Erfahrung schon einschränken: "Wenn wir das alle tun würden, hätten wir schon viel erreicht."

Mit einer rhetorischen Frage kontert Hachen, denn: "Welche Menschen sind gemeint, denen die Politik nicht mehr zuhören soll? Sind das die, die wir in unserem Wahlkreis treffen, oder jene, die wir mal mehr, mal weniger gefiltert in sozialen oder klassischen Medien erleben?" Wahrscheinlich sind es alle, die sich in irgendeiner Form im Internet, in Leserbriefen oder auf der Straße Gehör verschaffen. Möglicherweise sind es mehr, und zwar auch all jene, die sich nicht öffentlich äußern, möglicherweise nur zu Hause oder bei einem Bier im Festzelt. Oellers erklärt, dass ihm gerade Menschen wichtig sind, denen er bei einem Bier, bei einem Fest oder einem eher privaten Anlass begegnen kann: "Hier höre ich die ungefilterte Meinung, auch wenn diese manchmal ganz schön unbequem sein kann."

Vielleicht haben die Wähler im Kreis Heinsberg Glück. Ob Bund oder Land, Schwarz, Rot oder Grün - ihre Abgeordneten erklären alle, dass sie viel Zeit darauf verwenden, mit den rund 250.000 Menschen ins Gespräch zu kommen. Oellers versucht beispielsweise, per E-Mail an ihn herangetragene Anliegen in persönlichen Gesprächen zu klären und plant für 2017 Ortsbesuche, bei denen er Vereine, Einrichtungen, eben vieles, was ein Dorf ausmacht, versucht, an einem Tag kennenzulernen. "Der Weg aus einem Festzelt zu meinem Auto kann, wenn ich in meinem Wahlkreis bin, schon mal 30 statt 5 Minuten dauern, weil ich von vielen angesprochen werde. Und ich sage: Die Bürger haben das Recht dazu, uns anzusprechen, und wir haben als ihre gewählten Vertreter die Pflicht, ihnen zuzuhören." Eine Erfahrung, die der junge CDU-Politiker mit Dienstsitz in Berlin und Aufgabenfeld im Kreis Heinsberg gemacht hat, ist, "dass die Menschen immer überrascht sind, wenn ich sie zum persönlichen Dialog einlade. Die wenigsten rechnen damit."

Viel öfter sollte das wieder zur Normalität werden. So sieht es die Grünen-Landespolitikerin Ruth Seidl. Ihre Partei ist aus dem Bürgerdialog heraus entstanden, jedoch stellt sie fest: "Es bedarf eines neuen Aufeinanderzugehens." Und Kritikern an "den" Politikern "da oben" sagt sie: "Wenn Menschen sagen, die Politik nimmt uns nicht mehr ernst, gehört dazu auch eine Bringschuld, sich in die Politik einzubringen und das Recht wahrzunehmen, an Wahlen teilzunehmen."

Die Kommunikation hat sich verändert. "Die Bereitschaft zum Dialog - zu dem es meines Erachtens gehört, zuzuhören und auch einmal den Blickwinkel des Gegenübers einzunehmen - nimmt mit dem Anstieg der Schnelllebigkeit unserer Zeit ab", sagt Seidl. Dem müsse Politik entgegentreten, auch, weil sie gar nicht anders könne: "Ein Gesetzgebungsverfahren geht nun mal nicht schnell, sondern braucht seine bis zu sechs Monate. Wir müssen den Menschen wieder mehr erklären, dass politische Meinungsbildung dauert und müssen Transparenz über unsere Tätigkeit schaffen. Das können wir beispielsweise sehr anschaulich vermitteln, wenn Bürger das Angebot zu einem Parlamentsbesuch annehmen."

Kommunikation muss sich noch weiter verändern. Auch das sagt Seidl. "Politiker haben sich immer Gedanken darüber gemacht, wie der Dialog geführt werden kann", sagt die erfahrene Grünen-Politikerin. Das fing im antiken Griechenland an und ist heute nicht anders: "Wir müssen uns Gedanken über neue Kommunikationsformen machen, um die schwierigen, komplexen Themen für die Bürger herunterzubrechen", fordert Seidl.

Die von Gerd Hachen erkannte "Orientierungskrise" bei Bürgern und Politikern setzt genau an dem Gedanken an. Kommune, Kreis, Regierungsbezirk, Land, Bund, Europäische Union, vielleicht weltweit - politische Beschlüsse sind tief miteinander verwoben. Diese Komplexität zu durchdringen, ist schwieriger geworden. E-Mails, Internetkommentare, Leserbriefe, Stellungnahmen - politische Entwicklungen werden heute wohl mehr denn je öffentlich diskutiert, kommentiert, diskreditiert. Das Netz zwischen all dem ist verwobener als früher, findet Hachen: "Deshalb verstehe ich sehr gut, wenn immer mehr Menschen durch die Vielzahl von Eindrücken nur noch einen Brei wahrnehmen. Der normale Bürger ist ähnlich wie wir Politiker in eine Orientierungskrise geraten." Eine einfache Lösung sehe er dafür nicht, außer "lernen, damit umzugehen, zuhören, wahrnehmen, für neue Strömungen offen sein und diese vor den eigenen Werten und Erfahrungen reflektieren" und "ganz genau aufpassen, dass die größer werdende Zahl an Menschen, die sich abgehängt fühlen, wieder verringert wird". Politiker sollten sich allerdings auch die Frage stellen, ob sie heute möglicherweise zu viel zuhören. Hier ein Internetkommentar, dort eine Stellungnahme eines Interessenverbands: "Lassen wir uns von Stimmen und Stimmungen treiben?"

Das Wort "suchen" fällt oft. Dialog suchen, Kontakt suchen, Lösungen suchen. Spinrath, Oellers, Hachen und Seidl erkennen damit an, dass es nicht immer einfach ist zwischen Politikern und Bürgern, sagen damit, dass etwas getan werden muss. Dass dies nicht allein vonseiten der Politik geschehen kann, betont dabei Ruth Seidl: "Wir müssen weiterhin für den Dialog zwischen den Menschen kämpfen, auch mit denen, die anders denken. Wir müssen ihn suchen, damit sich die Haltung ,keiner denkt an uns' nicht bis in die Mitte der Gesellschaft ausdehnt. Aufgabe von Politik ist es, sich immer wieder zu bemühen, die Menschen in ihrer persönlichen Lebenswirklichkeit zu erreichen. Letztlich aber muss der Dialog von beiden Seiten gesucht werden - er ist ein wichtiges Element von gelebter Demokratie."

Nicht jede Gruppierung sucht jedoch den Dialog, stellt Seidl fest. Norbert Spinrath macht diese Feststellung täglich, wenn er die an ihn gerichteten E-Mails liest: "Es kommen immer mehr Massen- und Hass-Mails, die nicht mit echten Namen geschrieben werden. Ich beantworte nahezu jeden Brief und jede E-Mail aus meinem Wahlkreis, wenn sich die Personen mit Namen zu erkennen geben. Es kommen aber immer mehr Mails, deren Absenden gar nicht den Dialog suchen." Er stellt zudem den Trend fest, dass es schwieriger wird, mit Bürgern den Dialog über einmal von ihnen gefasste Meinungen zu führen. Zum Beispiel bei den Freihandelsabkommen TTIP und Ceta. "Anfangs hat die SPD die Bedeutung des Themas für die Menschen nicht erfasst", gibt Spinrath zu. Dann aber habe sie umgeschwenkt, Parteichef Gabriel habe öffentlich gemacht, was öffentlich zu machen war, "auch alle Veränderungen, die in dem Diskussionsprozess vorgenommen wurden. Dennoch wird uns bis heute vorgeworfen, intransparent zu sein." Die Bemühungen um Transparenz und zum Dialog seien kaum zur Kenntnis genommen worden: "Stattdessen heißt es häufiger als früher, wenn einem eine Aussage eines Politikers nicht passt: ,Wir werden belogen.' - Mir fehlt da der Respekt vor der anderen Meinung."

Politik lebt vom persönlichen Gespräch. Da ist sie nicht anderes wie das restliche Leben. Anliegen lassen sich klarer als in E-Mails oder Internetkommentaren darlegen und Emotionen werden besser erkennbar. Letztlich ist es das Gespräch, um das Hachen, Oellers, Seidl und Spinrath alle Bürger bitten. Oder wie Wilfried Oellers formuliert: "Die Kontaktaufnahme zu uns Abgeordneten ist gar nicht schwer."

(spe)
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