Schwerpunkt Vorlesen Und Zuhören Die einsame kleine Tanne

Erkelenz · Tief im Wald stand eine hübsche kleine Tanne. Sie hatte nur einen Fehler, über den sie sehr traurig war. Ihre Spitze war etwas verkrüppelt.

Schwerpunkt Vorlesen Und Zuhören: Die einsame kleine Tanne
Foto: der S.I.E.

Hochmütig standen die anderen groß und gerade gewachsenen Tannen und Fichten um sie herum und hatten andauernd etwas an ihr auszusetzen. "Halte Dich aufrecht, damit Deine Spitze nicht so krumm bleibt", sagten sie, "wenn Du Dich mit dem Wachsen nicht beeilst, wirst Du niemals ein Weihnachtsbaum werden." Es war das schönste Ziel der kleinen Tanne, einmal ein wunderschöner Weihnachtsbaum zu sein. Schüchtern schaute sie zu ihren großen Schwestern empor. "Ach", seufzte sie, "das werde ich wohl nie schaffen, so groß und gerade zu werden - und ich möchte doch so gerne einmal ein Weihnachtsbaum sein!"

Jetzt war noch Frühlingszeit, dann kam der Sommer, und die kleinen Häschen sprangen beim Spielen vergnügt um die kleine Tanne herum. Ihre Freunde, die Vögel, sangen ihr lustige Lieder vor. Die Meisen und die Spatzen, die immer alles wussten, erzählten ihr zum hundertsten Male, wie schön ein Weihnachtsbaum aussieht. "Wenn es doch schon soweit wäre", sagte sie und es knackte ordentlich in ihren Zweigen, so sehr strengte sie sich an, um zu wachsen. "Geduld, Geduld", zwitscherten die Vögel, "hier im Wald ist es doch viel schöner als in den Häusern der Menschen!" Nun wurde es Herbst. Kälter wurden die Tage, immer länger die Nächte. Ja, und dann kam der Winter! Der Schnee fiel in dicken Flocken auf die Erde. Unsere kleine Tanne sah plötzlich ganz weiß aus. Die Vögel sangen längst keine Lieder mehr, sie suchten Schutz in den Zweigen der Tannen oder flogen zu den Häusern der Menschen, weil sie dort Futter bekamen. Die Rehe, Hasen und Eichhörnchen bekamen ihr warmes Winterfell und versteckten sich in dem dichten Unterholz des Waldes.

Eines Tages gingen Männer durch den Wald mit Äxten und Sägen und suchten Weihnachtsbäume aus. Eine Fichte und eine Tanne nach der anderen wurde gefällt und auf einen großen Wagen geladen. Auch vor der kleinen Tanne blieben die Männer stehen. "Ach, die hat ja eine krumme Spitze", sagten sie. "Nein, die kann man als Weihnachtsbaum nicht gebrauchen" und eilten davon. Da war die kleine Tanne ganz verzagt und weinte dicke Harztränen. Nun kam das Weihnachtsfest immer näher, und plötzlich war der Heilige Abend da. Als es dunkel wurde, ging der Förster mit seiner Frau und den Kindern in den Wald. Sie zogen zwei große Schlitten hinter sich her, vollgepackt mit Futter für die Tiere des Waldes. Als die Kinder die kleine Tanne sahen, riefen sie: "Vater, Mutter, seht doch, hier steht der richtige Baum für unsere Waldweihnacht. Wie schön, dass die Spitze krumm ist, daran können wir die Meisenringe aufhängen!" Nun wurde ausgepackt, das Heu für die Rehe, Kohl und gelbe Rüben für die Hasen wurden auf trockene und geschützte Plätze gelegt, ein Vogelhäuschen mit reichlich Vogelfutter wurde an die kleine Tanne gehängt und Meisenringe über die krumme gebogene Spitze geschoben. Kerzen und dicke rote Äpfel wurden an ihren Zweigen befestigt. Die kleine Tanne wagte vor Glück und Seligkeit gar nicht, sich zu rühren. Nun wurde sie doch noch ein wunderschöner Weihnachtsbaum! Der Förster zündete die Kerzen an, alle falteten die Hände und sangen: "Stille Nacht, Heilige Nacht", und es war, als ob der ganze Wald mitsang.

Unsere Autorin (85) war früher Mitglied der Schreibwerkstatt

(RP)
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