Zeitzeugen berichten Eine Kindheit unter Bombenhagel

Emmerich/Mehrhoog · Die Schwestern Irmgard Verstegen (82) aus Emmerich und Maria Baumann (86) aus Mehrhoog entgingen im Zweiten Weltkrieg mehrmals nur knapp dem Tod. Jetzt erzählen sie von den Erlebnissen.

 Bei Bombenangriffen spendete den Schwestern Irmgard Versteegen (l.) und Maria Baumann eine Puppe Trost.

Bei Bombenangriffen spendete den Schwestern Irmgard Versteegen (l.) und Maria Baumann eine Puppe Trost.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Kaum einer kann sich vorstellen, was Kinder im Zweiten Krieg gesehen haben und ertragen mussten. Zeitzeugen gibt es immer weniger, weil der Krieg seit 70 Jahren vorbei ist und viele bereits gestorben sind. Irmgard Verstegen aus Emmerich und ihre Schwester Maria Baumann aus Mehrhoog schildern einige Erlebnisse, die sich rund um ihr Elternhaus in Mehrhoog an der heutigen B 8 abspielten. „So etwas vergisst man nicht“, sagen die beiden Seniorinnen.

Vier Mädchen und ein Junge gehörten zur Dachdeckerfamilie Devers. 1931 gründete Vater Wilhelm mit Unterstützung von Mutter Rudolfa den Betrieb. Von der Familie leben heute noch die 86-jährige Maria und die 84-jährige Ursula, beide in Mehrhoog, die 82-jährige Irmgard in Emmerich und die 80-jährige Ruth in Stuttgart. Bruder Willi starb 2005 bei einem Motorradunfall.

Im Zweiten Weltkrieg: Die Männer wurden eingezogen und Rudolfa Devers bot allen Verwandten Schutz in dem kleinen Einfamilienhaus an. „Schließlich bewohnten wir es mit sieben Müttern, 14 Kindern und einem älteren Herrn aus Wesel. Wir haben zu dritt in einem Kinderbett geschlafen“, erzählt Irmgard Verstegen.

Alle dachten, dass auf dem Lande der Krieg wohl nicht so hautnah zu spüren sei, doch das Gegenteil war der Fall. Als 1945 die Alliierten in Bislich per Landungsbrücken über den Rhein kamen und in Richtung Westen zogen, gingen sie auch nach Mehrhoog. „Ein Trupp kam mit Flammenwerfern, Bauernhöfe wurden in Brand geschossen, Menschen verloren nicht nur ihr Haus, sondern auch ihr Leben“, erzählt Maria Baumann, die später den Mehrhooger Bauern Johann Baumann heiratete. Er erzählte ihr, dass er als 15-Jähriger zum Graben von Panzergräben am Fuße des Eltenbergs eingesetzt wurde. Nach dem Krieg schrieb er eine Art Tagebuch, darin heißt es: „Gegen Abend steht der Güterzug bereit, um uns zurück zu bringen. Er steht im freien Feld und ist mit leichten Flugabwehrgeschützen bestückt. Wir erreichen gerade den Zug, da bellen die Abwehrgeschütze los. Sieben Jagdbomber sind im Anflug. In panischer Angst flüchten wir alle, um den Straßengraben und die schützenden Lindenbäume zu erreichen. Die ausgeklinkten Bomben schlagen hinter uns ins Feld ein. Zum ersten Mal hat es Tote und Verletzte unter uns Schanzern gegeben.“

Es gibt auch in Mehrhoog immer wieder Bombenangriffe. Kinder und Mütter flüchten in Keller. Die jüngste Schwester Ruth trug immer eine Puppe mit sich herum. „In einer Bombennacht haben wir alle uns an dieser Puppe festgehalten“, erzählt Irmgard Verstegen. Die Puppe gibt es immer noch.

Auch wenn es ruhiger wurde, durften die Kinder nicht heraus. Mussten sie beispielsweise Lebensmittel besorgen, wurden sie gewarnt, nur die festen Wege zu benutzen – wegen der Minen. Auf einem 300 Meter entfernten Hof holten sie Buttermilch. Bis eines Tages in einem kleinen Wäldchen gegenüber mehrere Soldaten im Feuer von Brandbomben eingeschlossen waren und bei lebendigem Leib verbrannten.

Immer wieder gab es auch deutsche Soldaten, die im Keller der Familie Devers Schutz suchten, ein sehr gefährliches Unternehmen – sowohl für die Soldaten als auch für die Familie. Denn Deserteure wurden erschossen. Trotzdem halfen sie immer wieder. Einmal hörten sie in der Nähe einen Mann rufen: „Ich sterbe, mir geht es schlecht.“ Die Mutter holte ihn mit Hilfe einer Matratze in den Keller, während um sie herum geschossen wurde. „Wir Kinder und die Mütter beteten für den Soldaten, denn er hatte einen Bauchschuss erlitten“, erzählt Irmgard Verstegen. Am folgenden Tag zählten sie die Einschusslöcher: Es waren 21 Stück. „Und keine Kugel hatte meine Mutter getroffen“, so Irmgard.

Wie mutig die Mutter war, bewies sie immer wieder. Einmal bekam sie ein Gespräch von deutschen Offizieren mit, die die Kreuzung sprengen wollten. „Das hätte für uns eine Evakuierung bedeutet, denn unser Haus wäre mit zerstört worden“, so Irmgard. Die Mutter wetterte gegen die Soldaten, dass sie das unterlassen sollten wegen der Kinder. Tatsächlich wurde nicht gesprengt. Ein anderes Mal wollte ein Alliierter eine Handgranate in den Keller des Hauses werfen, weil er dachte, dass sich dort deutsche Soldaten verschanzt hätten. „Meine Mutter rannte hinaus und rief, dass sich nur Kinder in dem Haus aufhalten, die doch bereits ihre Väter an den Krieg verloren hatten.“ Er warf die Granate nicht.

Ihr Vater Wilhelm kämpfte in Russland. „Wir schrieben ihm fast jeden Tag Briefe“, erinnert sich Maria. Der Vater erzählte später, dass er unterwegs allen das Foto seiner Familie gezeigt habe und die Menschen ihm dort sogar mit Kleidung und Nahrung geholfen hatten.

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