Literatur Die Siegerin aus Emmerich

Emmerich · 199 Schüler aus ganz Deutschland haben ihre Beiträge zu dem Thema „Ohne mich“ des Tom-Sawyer-Schreibwettbewerbs in Rees eingeschickt. Marie von Ewald ging als Siegerin hervor. Die RP präsentiert ihre zum Nachdenken anregende Geschichte.

 Die Sieger des Wettbewerbs.

Die Sieger des Wettbewerbs.

Foto: Scholten

„Ohne mich“ lautete das Thema des achten bundesweiten Tom-Sawyer-Wettbewerbs der Stadt Rees. 199 Schüler aller weiterführenden Schulen sandten ihre Geschichten ein, eine achtköpfige Jury ermittelte den jeweils besten Beitrag aus insgesamt vier Altersgruppen. In der Gruppe B (siebtes und achtes Schuljahr) gewann Marie von Ewald aus Emmerich.

Die Schülerin des Willibrordi-Gymnasiums schrieb wortstark die Gedanken eines Menschen nieder, der den Freitod wählt. „Ich habe mir die Situation ausgedacht, zum Glück musste ich mir solche Gedanken selbst noch nicht machen“, sagte Marie von Ewald bei der Preisverleihung im Reeser Bürgerhaus.

Im Verlag „edition anderswo“ ist das Begleitbuch zum Schreibwettbewerb erschienen. Es heißt „Ohne mich“, kostet 9,80 Euro, ist über alle Buchhandlungen und im Bürgerservice des Reeser Rathauses erhältlich und enthält 39 Kurzgeschichten der jungen Teilnehmer. Mit Jana Hardering und Nils Tepaße sind auch zwei Autoren aus Rees dabei, dazu drei weitere aus dem Kreisgebiet.

Ein Geschenk für Neugierige: Mit freundlicher Genehmigung von Marie von Ewald präsentiert die Rheinische Post ihren mit dem Tom-Sawyer-Preis prämierten Beitrag.

Ohne Mich

Es war kalt. Der Wind zerrte an meinem langen Haar. Ich hatte die Augen geschlossen. Ich öffnete und schloss meine Hände wieder und wieder. Noch war meine Entscheidung nicht gefallen. Eine starke Böe zog an mir und meiner Kleidung. Unter mir rauschten Autos die Straße entlang. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ein Regentropfen fiel auf mein Gesicht. Ganz sanft, fast so, als würde er mich streicheln, versuchen, mich zu trösten. Wie eine Träne rollte er meine Wange hinab. Tränen, davon hatte ich schon viele vergossen. Zehn Schritte und ich würde fallen. In die Tiefe. Vom Dach eines Hochhauses.

Nun fielen immer mehr Tropfen vom Himmel. Auf mein Haar, meine Kleider, meine Stirn, meine Lippen. Wie Küsse des Abschiedes. Ein bitterer Abschied. Ich öffnete meine Augen und sah in den Himmel. Weinte er um mich? Immer heftiger regnete es und immer weiter starrte ich in den Himmel. Es war schon dunkel. Ein paar Sterne glitzerten am Himmel, und der Mond breitete langsam sein Licht aus. Die Sonne verschwand und mit ihr mein Leben. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein Handy klingelte, doch ich nahm es nicht wahr. Eins, zwei. Nun stand ich näher am Abgrund. Am Rand des Daches, das mir mein Leben zu nehmen vermochte. Das hier, das war kein Selbstmord. Viele Menschen hatten mich in meinem Leben verletzt, mich ausgenutzt und mir so etwas genommen. Momente der Freude, Spaß, Leichtigkeit, Teile meiner Seele und meine Zukunft. Nein, das hier war kein Selbstmord. Es waren die anderen gewesen, die das Leben schon längst aus mir gesogen hatten. Sie hatten mir mein Leben schon längst genommen, und nun war ich nur noch eine Hülle meiner selbst. Ich würde meinem Leben ein Ende setzen, genommen hatten es die anderen.

Ich blickte hinab auf die Straße. Die ganze Menschheit war kaputt. Jeder nahm, und nur die wenigsten gaben. Jeder verzehrte sich nach dem kleinsten bisschen Liebe, doch selber gab man nichts. War man zu nett, dann wurde man ausgenutzt. Es fühlte sich an wie Verrat. Mich hatten sie gebrochen, mir meine Seele genommen. Ich hatte gekämpft, alles gegeben. Das Schlimmste daran war, dass man über Jahre hinweg immer wieder verletzt wird. Man kann das aushalten, eine Zeit lang. Man kann das Gewicht tragen, das schwer auf den eigenen Schultern lastet. Aber man spürt es die ganze Zeit, und es wächst jeden Tag, jede Stunde und jede Minute. Irgendjemand verletzt einen immer. Durch den Wind peitschte der Regen jetzt auf mich herab und ich war inzwischen durchnässt. Meine Anziehsachen klebten an meinem Körper und mir war eiskalt. Es war mir egal. Alles war mir egal. Irgendwie genoss ich die stechende Kälte sogar, wie sie sich langsam in mir ausbreitete und meinen Körper füllte. Eiskalt, wie viele dieser Menschen unter mir. Ich ging weiter nach vorne. Ein Schritt, und ich würde fallen. Mir kam der Gedanke, dass ohne mich alles einfacher wäre. Meine „Freunde“ müssten sich keine Gedanken mehr um meine Probleme machen, und meine Familie müsste sich nicht mehr um mich sorgen. Ich hing nicht an meinem Leben, nicht mehr. Ich war nur noch in mir selbst gefangen und meine Seele schrie danach, endlich frei gelassen zu werden. Ich hatte den Kampf verloren. Den ewigen Kampf gegen die Menschheit und auch den Kampf gegen mich selbst.

Es würde keinen Abschiedsbrief geben. Nicht von mir. Eine plötzliche Ruhe überkam mich. Stille. Meine Entscheidung war gefallen. Ich hob den Kopf ein letztes Mal zum Himmel, sah zum letzten Mal die Sterne. Mit einem traurigen Lächeln, verabschiedete ich mich von dieser Welt. Ohne zu zögern, tat ich meinen letzten Schritt. Einen Schritt nach vorne.

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