„Et Hüs an de Möll“ von Haldern Die Industriemühle aus dem 20. Jahrhundert

Haldern · Im 20. Jahrhundert betrieb die Familie Wissing eine kleine Industriemühle an der Klosterstraße in Haldern. Sie funktionierte mit Motoren statt Windkraft und war bis zu ihrer Aufgabe wichtiger Bestandteil des Dorfes.

 Der aus Hamminkeln stammende Gerhard Wissing ließ im Jahr 1905 das Müllerhaus und den grauen Mühlenanbau an der Klosterstraße in Haldern errichten.

Der aus Hamminkeln stammende Gerhard Wissing ließ im Jahr 1905 das Müllerhaus und den grauen Mühlenanbau an der Klosterstraße in Haldern errichten.

Foto: Michael Scholten

„Et Hüs an de Möll“ steht auf der Dachgaube des Hauses Nummer 19 an der Klosterstraße. Hier wohnte seit 1905 die Müllerfamilie Wissing. Sie betrieb in Haldern allerdings keine Windmühle, sondern direkt neben dem Wohnhaus eine elektrische Mühle. Noch heute ist sie gut erkennbar, wenn man vom Rewe-Parkplatz in Richtung Klosterstraße und auf das Müllerhaus nebst grauem Anbau mit zwei Holztoren schaut.

In Hamminkeln steht an der Bislicher Straße eine Mühle Wissing, die von der langen Müllertradition dieser Familie zeugt. Der zylindrische Turm, der zum Wohnhaus umgebaut wurde, stammt aus dem späten 17. Jahrhundert und hatte bis 1920 noch Flügel.

Der in Hamminkeln geborene Gerhard Wissing (1869 bis 1958) investierte Anfang des 20. Jahrhunderts sein Geld, das er an der Börse mit Getreidehandel verdient hatte, in die moderne Halderner Mühle. Statt auf Windkraft setzte er von Anfang an auf Motoren, um die Mühlsteine und die Haferquetsche anzutreiben.

Gerhard Wissing und seine aus Haldern stammende Frau Anna, geborene Laaks, hatten neun Kinder, von denen jedoch drei früh starben. Der älteste Sohn wurde Pfarrer, der zweite Sohn Paul (1902 bis1970) übernahm den elterlichen Mühlenbetrieb. Obendrein verkaufte er Hühner- und Kaninchenfutter, Kunstdünger und Kohle. Eine Zeitlang betrieb die Familie im Erdgeschoss ihres Hauses auch ein Lebensmittelgeschäft.

Paul Wissing und seine Frau Paula, geborene Schmeink, zogen vier Söhne und zwei Töchter groß. Klemenz und Paul, genannt „Päule“, halfen schon als Schüler eifrig in der Mühle mit. So schippten sie das Getreide oder bedienten den Dreschkasten. Viele Bauern brachten ihr Korn in die Klosterstraße, wo es gemahlen wurde. Im Hinterhof lagerten die Kohlen und Kunstdüngersäcke, die per Pferdekutsche zu den Kunden gebracht wurden.

Hildegard Rosenboom, geborene Wissing, erinnert sich noch gut an den sogenannten „Gummiwagen“ (die Kutsche hatte dicke Gummireifen), mit dem ihr Vater und ihr Bruder Klemenz die bestellte Ware auslieferten.

Für damalige Verhältnisse war die Müllerfamilie wohlhabend. Sie wohnte und arbeitete in einer guten Gegend, eingerahmt von der Post und vom Pastorat. Im Haus Wesendonk lebten zwei Familien, am Standort der heutigen Volksbank war die Werkstatt eines Sattlers und Schusters. Aus ihrem Wohnhaus blickte die Familie in die Gärten, die zum Restaurant Doppeladler gehörten, und weiter Richtung Pfarrkirche.

Den Zweiten Weltkrieg überstanden das Haus und die Mühle weitgehend unbeschadet. Paul Wissing war aus gesundheitlichen Gründen nicht als Soldat eingezogen worden. So konnte er auch in den Kriegsjahren alle Dienste der Mühle anbieten, unterstützt von seinen Söhnen und zeitweise von einem zugewiesenen russischen Zwangsarbeiter. „Der Mann war Teil unserer Familie und saß beim Essen mit am Tisch, obwohl das streng verboten war“, weiß Hildegard Rosenboom aus Erzählungen ihrer älteren Brüder. „Als die alliierten Soldaten 1945 nach Haldern kamen, ist der Russe in den Kirchturm geklettert und hat ein Bettlaken als weiße Fahne befestigt. Den Soldaten hat er gesagt, sie sollen meinem Vater und seiner Familie nichts tun, weil das gute Menschen sind.“

Gerhard Wissing starb 1958, sein Sohn Paul im Jahr 1970. Auffällig ist, dass sie in ihren Totenzetteln nicht als Müller, sondern Kaufmann betitelt wurden. Ferner wurden die Verdienste ums Allgemeinwohl erwähnt: Paul Wissing war Ehrenmitglied des Kirchenchores, Gerhard Wissing war Schöffe, Mitglied im Kirchenvorstand und im Gemeinderat sowie Vorstandsmitglied vom Spar- und Creditverein Haldern.

Laut Hildegard Rosenboom sollte ihr Bruder Klemenz den Familienbetrieb übernehmen. Er hatte schon viele Jahre mit seinem Vater gearbeitet, als dieser wegen Diabetes und den daraus folgenden Krankheiten nicht mehr mit gewohnter Kraft anpacken konnte. Die Buchführung erledigte Paula Wissing, die einst die höhere Handelsschule besucht hatte.

Die Umstellung vieler Haushalte von Kohle auf Gas- oder Ölheizungen sowie die stetig wachsende Konkurrenz auf dem Tierfuttersektor durch die großen Genossenschaften beendeten die Geschichte der Mühle Wissing, der Familienbetrieb wurde aufgegeben. Klemenz Wissing arbeitete für eine Türenfabrik, sein Bruder Paul wurde Schlosser und später Kaufmann.

Der Zufall wollte es, dass Paul Wissing 1973 neben der Scholten-Mühle in Rees baute und Jahrzehnte später sein geballtes Mühlenwissen in die Führungen durch die renovierte Windmühle einbringen konnte. Bis zu seinem Tod im Jahr 2018 erklärte er vielen tausend Besuchern, insbesondere Kindergarten- und Grundschulkindern, die alte Technik.

Die Mutter, Paula Wissing, starb 1983 im Alter von 71 Jahren. Daraufhin verkauften ihre Kinder das Wohnhaus und die stillgelegte Mühle in der Klosterstraße an den Schreinermeister Michael Herbst. Der renovierte und vermietete das Müllerhaus und verzierte die Dachgaube mit einem Holzbalken, in den er den Schriftzug „Et Hüs an de Möll“ und zwei kleine Mühlsteine schnitzte.

Ein echter Mühlstein aus der früheren Mühle steht heute vor dem Haus in der Schubertstraße, in dem Klemenz Wissing bis zu seinem Tod lebte.

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