Interview Heinz Wellmann Der Melatenweg: Eine Erinnerung an die Pest

Heinz Wellmann, Vorsitzender des Reeser Geschichtsvereins, erzählt, wie die Menschen am Niederrhein mit Seuchen fertig wurden.

 Heinz Wellmann in seiner Rolle als Nachtwächter von Rees.

Heinz Wellmann in seiner Rolle als Nachtwächter von Rees.

Foto: scholten

Schulen und Kindergärten sind geschlossen, die meisten öffentlichen Veranstaltungen sind bis Ende April abgesagt. Wie alle Kommunen in NRW, hat auch die Stadt Rees mit drastischen Maßnahmen auf die Gefahr durch das Corona-Virus reagiert. Im Interview mit Heinz Wellmann, Vorsitzender des Reeser Geschichtsvereins „Ressa“ und der deutschen Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren, wird deutlich, dass die weltweite Corona-Krise nicht die erste Pandemie ist, mit der die Menschen am Niederrhein fertig werden müssen.

Weckt Corona bei Ihnen Erinnerungen an vergleichbare Gefahren im Mittelalter?

Heinz Wellmann Seuchen und Pandemien hat es immer gegeben, nur waren die Medizin und die Gesellschaft nicht so gut darauf vorbereitet, wie wir es heute sind. So war die Pest im Mittelalter eine Pandemie der Superlative. Der „Schwarze Tod“ hat sich in Europa ausgebreitet und einen Großteil der Bevölkerung dahingerafft. Man geht von 20 Millionen Opfern aus.

Wie war die Situation damals in Rees?

Wellmann Das will der Geschichtsverein für sein nächstes Jahrbuch erforschen. Aber im Museum in Kalkar gibt es detaillierte Informationen darüber, wie furchtbar Kalkar unter der Pest gelitten hat. Bis heute findet dort jedes Jahr am dritten Sonntag im August eine „Pestprozession“ statt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Reeser Bevölkerung damals verschont blieb.

Wie konnte sich die Pest im Mittelalter so schnell ausbreiten?

Wellmann Übertragen wurde der Erreger über Rattenflöhe. Seinen Anfang nahm der „Schwarze Tod“ um 1330 in der Mongolei. Von dort breitete sich die Seuche über internationale Handelswege wie die Seidenstraße aus. Aus den italienischen Küstenstädten kam sie über die Alpen auch nach Deutschland, wo die ersten Pestfälle im Jahr 1349 auftraten. Aufgrund der mangelnden Hygiene gab es in den Städten enorm viele Ratten. So hatte die Pest in Europa ein leichtes Spiel.

Wie ging man damals mit erkrankten Menschen um?

Wellmann Man stellte sie unter Hausarrest oder entfernte sie kurzerhand aus der Stadt. Das galt für alle ansteckenden, schweren Krankheiten. In Rees gab es zum Beispiel außerhalb der Stadtmauern ein Siechenhaus für Aussätzige, das sogenannte Melatenhaus. Die Straße, die dorthin führte, war der Melatenweg. Das Siechenhaus ist gewichen, aber der Straßenname erinnert noch heute daran. Aussätzige mussten früher eine sogenannte Lazarusklapper mit sich führen, damit die Gesunden sie schon von weitem hörten und ihnen nicht zu nahe kamen. Ärzte, die Pestkranke behandelten, waren an ihren markanten Pestmasken zu erkennen, die an einen schwarzen Vogel erinnerten.

Stimmt es, dass Pesttote teilweise sogar als Waffe eingesetzt wurden?

Wellmann Das ist richtig. Bei Belagerungen von Städten und Burgen legte man Pestleichen oder Lepra-Tote auf Katapulte und schleuderte sie über die Mauern. Das machte man auch mit den Kadavern von kranken Ziegen, Schafen oder Schweinen. Die Angreifer gingen davon aus, dass die Ratten die Leichen anknabberten und die Seuche schnell in der belagerten Stadt verbreiteten. Streng genommen, waren das die ersten biologischen Waffen.

Die Medizin hatte den Seuchen im Mittelalter nicht viel entgegenzusetzen. Wie halfen sich die Menschen?

Wellmann Die einen versuchten es mit Naturheilmitteln, die anderen hofften auf göttlichen Beistand. Davon zeugen die Pilgerströme, die einst in den beschaulichen Ort Millingen führten. Die Gemeinde tauschte im 15. Jahrhundert den bisherigen Namenspatron ihrer Pfarrkirche, Johannes, gegen St. Quirinus aus. Dieser römische Offizier war unter Kaiser Hadrian wegen seines christlichen Glaubens verfolgt und im Jahr 115 enthauptet worden. Als Heiliger wurde Quirinus später gegen die Pest, aber auch gegen Bein- und Fußleiden, Gicht, Lähmung, Eitergeschwüre, Hautausschlag, Ohrenschmerzen, Kropf, Fisteln, Pocken und Knochenfraß angerufen. Außerdem war er Patron der Pferde und Rinder, schützte nach damaligem Glauben also das Vieh der Bauern vor Krankheiten.

Mit welchen Folgen?

Wellmann Dass Millingen, gerade in schicksalhaften Zeiten, einen enormen Ansturm von Gläubigen erlebte. Als wir vor drei Jahren mit dem Reeser Geschichtsverein die Pfarrkirche St. Quirinus besuchten, erzählten uns Diakon Bernhard Hözel und Heimatforscher Norbert Behrendt, dass die Kirche sogar Priester aus der Umgebung holen musste, um den vielen tausend Pilgern die Kommunion austeilen zu können.

Die Nachtwächter waren damals für die Sicherheit innerhalb der Stadtmauern zuständig. Gegen die unsichtbare Gefahr der Seuchen waren sie aber hilflos, oder?

Wellmann Nicht ganz. So gibt es Hinweise, dass die Nachtwächter auch hölzerne Rasseln mit sich führten, um bei ihrem nächtlichen Rundgang die Ratten zu verscheuchen. Auch ich führe eine solche hölzerne Rassel bei meinen Rundgängen mit.

Sie leiten die deutsche Nachtwächtergilde und sind Mitglied im Bundesverband der Gästeführer (BVDG). Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Ihr Geschäftsfeld aus?

Wellmann Bundesweit fallen im Moment so gut wie alle Touren aus. Das gilt auch für alle öffentlichen Führungen in Rees. Der BVDG hat gerade eine Liste rumgeschickt, in die wir uns eintragen können, um die finanziellen Verluste durch entfallene Touren zu dokumentieren. Und am Freitag, dem Dreizehnten, wurde die anderthalb Jahre lang in Limburg vorbereitete Jahreshauptversammlung der Nachtwächter-Gilde abgesagt. Dafür hatten wir 120 Anmeldungen, aber ich musste jetzt einen Rundbrief mit der Absage verschicken.

Sind auch die Angebote des Reeser Geschichtsvereins von der Corona-Krise betroffen?

Wellmann Wir klären noch, ob der Ausflug zum Schloss Hueth am Osterwochenende für unsere Mitglieder stattfinden kann. Der Bildervortrag „Reeser Zeitreisen“ ist erst für den 13. Mai geplant. Und ob wir am 10. Mai im Pädagogischen Zentrum den Kinofilm „Ballon“ zeigen, hängt davon ab, ob der Zeitzeuge Günter Wetzel am Vorabend in Xanten über seine Ballonflucht im Jahr 1979 referiert oder ob die Stadt Xanten diese Veranstaltung absagt.

Wie lang, denken Sie, wird uns Corona noch im Griff haben?

Wellmann Da ist viel Kaffeesatzleserei im Spiel. Wir fahren in eine Nebelbank und dabei nur auf Sicht.  Andererseits gab es zwischen Oktober 2019 und heute in Deutschland durch das „normale“ Grippe-Virus schon 200 Tote. Obwohl man sich durch eine Impfung vor einer solchen Krankheit weitgehend schützen kann, machen das viele Menschen nicht. Die Wahrscheinlichkeit, durch das Influenza-Virus statt durch das Corona-Virus zu sterben, scheint größer zu sein. Natürlich sollten wir uns schützen. Es wäre töricht, den ärztlichen Empfehlungen nicht zu folgen. Aber ich bin optimistisch, dass ich die Corona-Pandemie überleben werde. Meine Führungen als Nachtwächter enden gelegentlich mit einem Satz aus dem Mittelalter: „Möge Gott Euch vor Pest und Cholera schützen!“ Das wünsche ich, ergänzt um „Corona“, auch allen Lesern dieses Interviews.

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