REES „Wir waren wie das Christkind“

REES · Der Spielzeugladen Raffel war in Rees einst eine Institution. Jetzt erinnert das Museum Koenraad Bosman an die Ära des Geschäftes.

  Da werden Erinnerungen wach: Hanni und Günther Raffel betrieben in der Dellstraße von 1955 bis 1991 einen Spielzeugladen.

Da werden Erinnerungen wach: Hanni und Günther Raffel betrieben in der Dellstraße von 1955 bis 1991 einen Spielzeugladen.

Foto: Familie Raffel

Am 31. August 1955 erschien in der „Rheinischen Post“ eine Anzeige: „Geschäfts-Eröffnung. Von morgen an finden Sie in unserem Neubau in Rees, Dellstraße 34, in großer Auswahl: Porzellan-, Haushalt- und Spielwaren. Günther Raffel und Frau Hanni, geborene Freischem“.  Die Hausnummer war falsch. Sie musste 24 heißen. Doch mit dieser Anzeige begann die 36 Jahre währende Ära des Spielzeuggeschäfts Raffel an der Dellstraße. Johanna Raffel, genannt Hanni, war die 1925 geborene Tochter des Reeser Großhändlers Wilhelm Freischem, dessen Firma damals noch die vielen kleinen Lebensmittelläden in der Region belieferte. Tochter Hanni absolvierte eine Ausbildung am Reeser Amtsgericht.

Günther Raffel, geboren 1928, kam 1949 aus der Kriegsgefangenschaft nach Rees. Die Familie stammte aus Ostpreußen, die Eltern wurden nach der Vertreibung nach Laboe in Schleswig-Holstein geschickt. Doch weil der streng katholische Vater Sorge hatte, seine drei Söhne, die bald aus dem Krieg heimkehren sollten, könnten im Norden Protestantinnen heiraten, ließ sich Paul Raffel als Grundschullehrer in das katholisch geprägte Rees versetzen.

Die Rechnung ging auf: Günther Raffel absolvierte eine Lehre im Großhandel von Wilhelm Freischem und heiratete dessen älteste Tochter Hanni.  Als reisender Handelsvertreter nahm Günther Raffel fortan in den Lebensmittelläden links und rechts des Rheins Bestellungen auf. Parallel erbaute die Familie Raffel in den 1950er Jahren ein Geschäfts- und Wohnhaus in der Dellstraße. Hanni Raffels Mutter, Wilhelmine Freischem, hatte vorausschauend dazu geraten, gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein zentral gelegenes Trümmergrundstück neben dem Krankenhausgarten zu kaufen. Auch das Warenangebot basierte auf Wilhelmine Freischems Idee: Die Reeser, die im Krieg fast alles verloren hatten, brauchten Haushaltswaren und Porzellan. Und wer es sich leisten konnte, Spielzeug für die Kinder. Wilhelmine Freischem erlebte die Geschäftseröffnung nicht mehr. Sie starb kurz vor dem 1. September 1955.

Günther Raffel arbeitete weiterhin für den Großhandel Freischem, allerdings nur noch dreimal wöchentlich halbtags und ansonsten im eigenen Geschäft. Wenn er unterwegs war, kümmerte sich Ehefrau Hanni um das Geschäft und ab 1958 auch um die Erziehung des Sohnes Winfried. 1960 kam Tochter Gudrun zur Welt. Mit Freude erinnert sich Winfried Raffel daran, wie seine Schwester und er mit einem großen Angebot an Spielwaren aufwuchsen: „Wir durften manchmal Sachen ausprobieren, sofern wir vorsichtig waren und keine Originalverpackungen aufrissen.“ Auch zu Weihnachten war die Auswahl üppig: „Ich bekam zu Weihnachten ein ferngesteuertes Modellauto, das man damals noch mit Kabel und Drehknopf lenkte“, sagt Winfried Raffel. „Meine Schwester bekam eine Sprechpuppe, war aber richtig sauer, weil sie auch ein Auto wollte. Also ging mein Vater noch an Heiligabend runter ins Geschäft und tauschte das Geschenk aus.“

Der November und Dezember waren stets die arbeitsreichsten Monate. Nicht nur, weil Hanni Raffel täglich die Schaufenster putzen musste: Kinder und Erwachsene drückten sich die Nase an der Scheibe platt, um die Modelleisenbahn zu bestaunen, die durch die weihnachtlich dekorierte Auslage fuhr. In der umsatzstarken Adventszeit kauften viele Kunden Geschenke für die Liebsten, wobei treue Kunden dafür ganzjährig in kleineren Raten anzahlten. Viele ließen sich die Pakete erst am Nachmittag vor Heiligabend liefern. „Mein Vater, meine Schwester und ich waren so etwas wie das Christkind“, sagt Winfried Raffel. „Wir haben alles eingepackt und an Heiligabend ausgeliefert. Wenn die Familie dann abends selbst unter dem Tannenbaum saß, waren wir hundemüde, aber glücklich.“ Zwischen Weihnachten und Neujahr stand die Inventur an. „Meine Eltern führten das ganze Jahr über sehr penibel Buch, zum Jahresabschluss mussten wir aber immer wieder den gesamten Warenbestand des Geschäftes erfassen und verbrachten drei Tage an der Rechenmaschine“, erinnert sich Winfried Raffel.

Die meisten Spielwaren bezog Günther Raffel über den Großhandel Janssen in Kevelaer. „Als Kinder sind wir oft am Samstag oder Sonntag mitgefahren, die riesigen Lagerräume waren interessant“, sagt Winfried Raffel. „Einiges haben wir direkt in den Kofferraum gepackt, anderes wurde in der nächsten Woche per Lkw gebracht. In unserem Keller hatten wir ein recht stattliches Warenlager.“ Eine Besonderheit war, dass „Onkel Raffel“ auch als Puppendoktor aktiv war. Er hatte besondere Kurse belegt und wusste, wie man abgerissene Arme oder Beine mit Spezialwerkzeug wieder reparierte.

Der erste IB-Supermarkt in Rees, Ende der 1960er Jahre auf dem ehemaligen Dobbelmann-Fabrikgelände eröffnet, war laut Winfried Raffel „durchaus eine Herausforderung“ für den elterlichen Betrieb. Die Konkurrenz beeinflusste auch das Bewusstsein im Einzelhandel: „Viele Kunden ließen sich in den kleinen Geschäften beraten und liefen dann rüber zum Supermarkt, um die Waren dort etwas günstiger zu kaufen“.

Die Kinder hatten andere Berufspläne und wollten das elterliche Geschäft ohnehin nicht übernehmen. 1991 wurde Hanni Raffel 65 Jahre alt. Zufrieden, aber bestimmt entschied sie, keinen Tag länger arbeiten zu wollen. „Mein Vater war erst 62 und hätte das Geschäft gern weiterbetrieben“, sagt Winfried Raffel. „Doch ohne die Unterstützung meiner Mutter gab auch er das Berufsleben schweren Herzens auf.“ Die restliche Ware wurde nicht verramscht, sondern Stück für Stück zu normalen Preisen verkauft. „Die Lücken, die in den Regalen immer größer wurden, begründeten meine Eltern gegenüber der Kundschaft mit Lieferengpässen, weil im unlängst wiedervereinten Deutschland so viel Ware in die neuen Bundesländer gehen würde“, sagt Winfried Raffel schmunzelnd. Im September 1991 fand letztlich doch noch ein kurzer Schlussverkauf mit kräftigen Rabatten statt.

Als Rentner unternahm das Ehepaar Raffel viele Reisen. Die Geschäftsräume wurden erst an einen Händler für Prothesen vermietet, später an zwei Modegeschäfte und an eine Innenausstatterin. Seit längerer Zeit befindet sich dort eine Versicherung. Hanni Raffel starb kurz nach Weihnachten 2008, Günther Raffel im Jahr 2015. Tochter Gudrun lebt heute im Ruhrgebiet, Sohn Winfried in Düsseldorf. Beide besitzen bis heute viele Erinnerungsstücke, darunter sind mehrere Geschäftsbücher, einige Spielwaren und das gläserne Geschäftsschild, das während der 36-jährigen Ära Raffel, von 1955 bis 1991, im Schaufenster des Spiel-, Porzellan- und Haushaltswarengeschäftes in der Dellstraße 24 hing. Diese Exponate sind auch in der Spielzeug-Ausstellung des Reeser Geschichtsvereins zu sehen.

(Michael Scholten)
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