Ungewöhnliche Bilder Der Maler mit der Lupe

Rees/Wesel · Thomas Dieckmann ist nahezu blind. Trotzdem erobert der Künstler Stück für Stück die Kunstwelt. Zweimal beteiligte er sich bereits an der Kulturnacht in Wesel, malte dafür unter anderem den Willibrordi-Dom.

 Der Domplatz in Wesel, gemalt von Thomas Dieckmann.

Der Domplatz in Wesel, gemalt von Thomas Dieckmann.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Ein wenig bedauert Thomas Dieckmann die Kinder von heute: „Wer in 40 oder 50 Jahren seine Kindheitserinnerungen malen will, dem kommen Windräder auf den Feldern und Photovoltaikanlagen auf den Dächern in den Sinn.“ Dagegen war die Kindheit, die Thomas Dieckmann in den 60er Jahren im Harz verbrachte, geprägt von malerischen Kornfeldern, alten Bauernhöfen und spannenden Autoschrottplätzen. Diese Erinnerungen lässt der 58-Jährige in seine großformatigen Acrylbilder einfließen. Nicht nur aus Nostalgie: Thomas Dieckmann ist nahezu blind. Eine Netzhauterkrankung hat seine Sehfähigkeit auf drei Prozent schrumpfen lassen. Inspirationsquelle für seine Bilder ist deshalb nicht die Welt, die ihn heute umgibt, sondern die Welt, die er früher noch sehen konnte.

„Der Dieckmann“, wie er sich als Künstler nennt, malt Bilder mit vielen tausend kleinen Details. Das ist auch dem Entstehungsprozess geschuldet: Thomas Dieckmann trägt beim Malen eine starke Lupenbrille, rückt mit dem Gesicht bis auf wenige Millimeter an die Leinwand heran und erkennt stets nur einen Bildausschnitt von der Größe einer Euro-Münze. Dieses winzige Areal bemalt er mit dem Zahnstocher. „Bei einem Pinsel würde ich keinen Widerstand spüren“, sagt Thomas Dieckmann. „Der Zahnstocher gibt mir die Gewissheit, dass ich den Farbpunkt genau dort setze, wo ich ihn haben will.“ Pinsel oder Schwamm kommen nur dann zum Einsatz, wenn er den Himmel oder andere größere Flächen malt.

 Thomas Dieckmann trägt mit einem Zahnstocher die Farbe auf die Leinwand auf.

Thomas Dieckmann trägt mit einem Zahnstocher die Farbe auf die Leinwand auf.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Auffällig ist die Tiefe in allen Bildern: Häuserschluchten, Landschaften, fiktive und reale NRW-Städte vergangener Jahrzehnte. Die ausgefeilte Perspektive überrascht umso mehr, wenn man weiß, dass Thomas Dieckmann keines seiner Werke in Gänze sehen kann: „In meinem Fall ist das Malen keine Erkennungsleistung, sondern eine Erinnerungsleistung. Ich male nicht einfach drauf los, sondern stelle mir das vollständige Bild vor, um es dann Feld für Feld auf die Leinwand zu bringen.“ Innerhalb dieser Felder folgt alles einer natürlichen Logik: „Ich male das Hintere immer zuerst: Wenn eine Frau über einen Zebrastreifen geht, kann ich die Frau erst malen, wenn der Zebrastreifen gemalt ist. Wenn ein Mann einen Stock hält, male ich erst den Stock und dann die Hand, die den Stock umgreift.“

 Thomas Dieckmann inmitten seiner Werke.

Thomas Dieckmann inmitten seiner Werke.

Foto: Markus van Offern (mvo)

Alles, was normalsehende Künstler als Handicap verstehen würden, wertet Thomas Dieckmann als Chance: „Wer außer mir nimmt sich so viel Zeit für die Details in seinen Bildern? Wer investiert so viele Stunden in ein einziges Bild?“ Freudig überrascht war er, als unlängst ein Radiobeitrag thematisierte, dass auch Leonardo da Vinci ein Augenproblem hatte: „Er soll geschielt haben und schaute beim Malen offenbar nur mit einem Auge auf die Leinwand, woraus sich die besondere Perspektive seiner Bilder ergab. Ich hoffe, dass die Kunstexperten diesen Aspekt noch sorgfältiger untersuchen werden.“

Für die großen Maler aller Epochen hat sich Thomas Dieckmann schon immer interessiert: „Ich habe mir früher im Museum alle Bilder angeschaut, aber nichts übernommen. Ich wollte meinen eigenen Stil entwickeln.“ Als Kind experimentierte er mit Wachsmalkreise, als Jugendlicher gewann er beim Malwettbewerb eine lila Stoffkuh, mit 20 Jahren zeichnete er Comics für eine Gewerkschaftszeichnung, später auch für eine Zeitung des Südwestfunks. „Bis Mitte 30 konnte Thomas Dieckmann „einigermaßen gut“ sehen. Als die Sehkraft immer weiter nachließ, wollte er sich, damals als Ordnungsamtsmitarbeiter in Köln-Chorweiler, vom Außen- in den Innendienst versetzen lassen. Stattdessen schrieb ihn der Arzt arbeitsunfähig. 1997 wurde Thomas Dieckmann Frührentner und konzentrierte sich auf die Malerei. Im Jahr 2000 zog er mit seiner Frau Birgit in den Reeser Ortsteil Millingen.

„Ich habe eigentlich immer nur für mich gemalt und nie für Ausstellungen oder Galerien“, sagt Thomas Dieckmann. Doch als sich die Bilder unter dem Dach stapelten, fragte sich das Ehepaar, was später mit der Kunst passieren werde. „Wir haben keine Kinder. Und aus meiner Berufserfahrung weiß ich, dass solche Nachlässe ganz schnell im Mülllcontainer landen“, sagt Thomas Dieckmann. Deshalb nahm er 2010 erstmals an einer Ausstellung teil und bringt seither seine Kunst in die Öffentlichkeit. Mit durchschlagendem Erfolg: „Vom ersten Tag an habe ich Bilder verkauft, sogar zu recht hohen Preisen. Viele Galeristen loben meinen Stil, den sie für unverwechselbar halten“, freut sich der Künstler. Bei der „Art Expo International“ in Ingolstadt wurde sein Acrylgemälde eines Schrottplatzes im September ausgezeichnet. „Ich nutze es, Maler statt Fotograf zu sein, und packe in meine Bilder immer alles rein, was ich über ein Thema weiß“, sagt Thomas Dieckmann. Gern erinnert er sich an frühe Besuche auf Schrottplätzen. „Deren Betreiber waren echte Ur-Viecher, die auf günstigen Grundstücken neben Bahntrassen wunderbare alte Autos stapelten, von denen man die gewünschten Ersatzteile abschrauben konnte.“ Diese Rostlauben hat Thomas Dieckmann in seinem prämierten Bild verewigt, darunter auch den VW Bulli T1 seines Onkels, und den Schrottplatz vor eine schäbig-schöne Ruhrgebietskulisse mit Zechenromantik und Leuchtreklame gesetzt.

Der Israeli Adi Lasri hat für sein virtuelles Museum „Round the World – The Exhibition“ auch mehrere Bilder von Thomas Dieckmann ausgewählt und teilt sie mit Kunstinteressenten in aller Welt. Für 2019 stehen weitere Ausstellungen in Berlin und Italien auf dem Programm. „Wir mögen schöne Locations und stellen vor allem in Schlössern und ähnlich beeindruckenden Orten aus“, sagt Birgit Dieckmann. Zweimal beteiligte sich „Der Dieckmann“ an der Kulturnacht in Wesel, malte dafür unter anderem den Willibrordi-Dom. „Wir verbringen viel Zeit in Wesel und Xanten und haben dort einen großen Freundeskreis“, sagt Thomas Dieckmann. Die Schönheit des Niederrheins kann er zwar nicht mit eigenen Augen sehen, doch er erlebt sie durch die Augen seiner Frau: „Wenn Biggi mir schildert, was sie sieht, entstehen in meinem Kopf ganz eigene, sehr detailreiche Bilder von dieser Region.“

Kontakt zu Thomas Dieckmann, eine Galerie seiner Bilder und Ausstellungstermine: www.derdieckmann-malerei.de

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