Emmerich "Ich bin 38, 39 oder 40"

Emmerich · Wie alt bin ich? Eigentlich eine einfache Frage. Nicht so für Sultan Seyrek. Die Deutsch-Türkin ist die Vorsitzende des Emmericher Integrationsrates. Ihre Lebensgeschichte hat sie für die RP aufgeschrieben.

Mein Geburtsdatum ist leider nicht genau festzustellen, weil mein Vater nach nur vier Jahren Ehe mit meiner Mutter verstarb und meine Mutter nach seinem Tod als Witwe, Analphabetin in einem kleinen Dorf ohne Elektrizität, Wasser im Haus, ohne Behörden, Einkaufsmöglichkeit und vieles mehr versuchen musste, zu überleben.

Dazu kam, dass sie als Frau mit vier Töchtern als "wertlos" abgestempelt wurde, weil sie keinen Sohn hatte. Denn traditionell muss der jüngste Sohn einer Familie für die Eltern im Alter sorgen.

Das ist auch einer dieser Gründe, warum es früher für die Kurden, aber auch für die Türken so wichtig war, wenigstens einen Sohn zu haben. Denn es gab ja keine wie uns heute in Deutschland bekannte Rentenversicherung oder ein Sozialsystem.

Als auch noch nach der Tradition meine Mutter ihren Schwager heiraten musste (also meinen Onkel, den Bruder meines Vaters), hat sie dagegen gekämpft und sich für jemand entschieden, den ihr Bruder für sie aussuchte.

Ihr war die Wahl ihres Bruders lieber als ihren Schwager zu heiraten.

Dieses Handeln bedeute damals traditionell für sie, dass mein Onkel nun das Recht hatte, uns ihr wegzunehmen und ihren auserwählten Mann zu erniedrigen, beschimpfen und zusammenzuschlagen.

Als mein Stiefvater einen Messer-angriff des Onkels überlebte, musste sie einsehen, dass meine Onkel nicht aufhören, bis mein Stiefvater getötet wird, und wir mussten nach Deutschland flüchten.

Inzwischen verstarb leider auch der einzige Bruder meiner Mutter an Tuberkulose und niemand konnte uns mehr beschützen. Erst für die Flucht benötigten wir Pässe, die mein Stiefvater – ohne dass wir dabei waren – in der nächstgrößeren Stadt beantragte. Und es war damals üblich, dass die Beamten willkürlich die jeweiligen Personen anhand der Passbilder schätzten.

Das war Ende 1980, Anfang 1981.

In Deutschland hat meine Mutter auf Erdbeerfelder, Zuckerrübenfelder etc. gearbeitet, um uns ein besseres Leben zu ermöglichen. Deshalb bin ich meiner Mutter (sie ist sehr weise, ehrlich, anständig, fair, gläubig, gütig und ist neben meinen Kindern, die wichtigste Person in meinem Leben), sehr dankbar.

Meine in der Heimat geborene Schwester und ich haben zwar versucht zu recherchieren, wann wir denn Geburtstag hatten, aber leider ist das nicht zu 100 Prozent festzustellen gewesen. Und deshalb bin ich 38, 39 oder 40 Jahre jung.

Wir drei Geschwister sind einfach auf Hauptschulen abgeschoben worden, ohne uns andere Möglichkeiten einzuräumen.

Da ich im Pass damals mindestens drei Jahre älter datiert war (wie auch meine Schwestern), haben wir die Schule früh verlassen und mussten sofort anfangen zu arbeiten, um die Familie (Oma in der Heimat, Tanten, etc.) zu unterstützen.

Da ich aber großes Interesse an Schule hatte, habe ich irgendwann gekämpft, dass ich tagsüber arbeite, und habe abends über die VHS dann die Fachhochschulreife nachgeholt.

Studieren durfte ich dann aber leider nicht, weil ich als Mädchen nicht alleine oder auch mit fremden Leuten nicht in einer anderen Stadt wohnen durfte. Denn ich musste ja auch immer Rücksicht auf die Ehre meiner Mutter legen, die ja im Leben sehr viele Schicksalsschläge erlitten hatte.

Heute gesteht sie uns aber, dass sie sehr es bereut, warum wir drei ältere Schwestern nicht studiert haben.

Trotzdem bin ich ihr sehr dankbar, dass wir mit ihrer Hilfe in Deutschland sind, wo wir unsere Emanzipation, Freiheit, Wissen, Demokratie ausleben können.

Das ist auch der Grund, warum ich mich für die Integrationsarbeit mit Leib und Seele einsetze.

Ich habe selber alle Probleme der Migranten miterlebt. Unter anderem war auch ich von Geburt an mit meinem Cousin verlobt und habe vier Jahre gegen diese arrangierte Ehe gekämpft und gewonnen und bin mit heute mit dem Mann verheiratet, den mir selbst ausgesucht habe.

Die vier Jahre habe ich dafür gebraucht, weil es mir immer wichtig war, nicht radikal, respektlos und offensichtlich gegen unsere Traditionen vorzugehen. Denn auch die erste Ehe meiner Mutter mit meinem Vater war arrangiert, genauso wie die von meiner Tante, meinen Cousinen, meiner Schwester, unseren Nachbarn etc.

Es war mir wichtig, dass meinen Landsleuten bewusst wird, dass eine arrangierte Ehe in der heutigen Zeit nicht angebracht ist, auch wenn es vorher Jahrhunderte gutgegangen.

Und ich glaube, dass wir hier schon einiges erreicht haben.

Ich bin zur Vorsitzenden des Integrationsrates gewählt worden und versuche hier die Ängste und Vorurteile der Migranten und der deutschen Bevölkerung abzubauen. Wichtig ist auch, Migrantenkindern die Chance auf eine bessere Schulbildung zu ermöglichen.

(RP)
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