Haffen/Rees Traditionsgaststätte „Bellevue“: Abriss im September

Rees · Rund um die fast 200 Jahre lange Geschichte ranken sich viele Erzählungen – von Fliegerbomben und Fahrzeugen, die an die Hauswand prallten.

 Die Gaststätte Bellevue vom Deich aus.

Die Gaststätte Bellevue vom Deich aus.

Foto: Latzel, Sebastian

„Bellevue“ – das sagt jedem etwas, der die Strecke zwischen Haffen und Rees auf dem Deich regelmäßig fuhr und an dem weißen Haus mit dem großen Schriftzug vorbeikam. Und so mancher Schüler, der aus Mehr und Haffen täglich mit dem Bus an dem Gebäude mit dem französichen Namen vorbeifuhr, rätselte über die Bedeutung. In letzter Zeit werden die Vorbeifahrenden allerdings einen anderen Eindruck bekommen: Das früher strahlend weiße Gebäude glänzt heute nur noch durch Leere. Im Zuge des Deichbaus mussten Rudolf und Gerda Middeke schweren Herzens ihr Zuhause verlassen.

Seit 1823 gibt es die Gaststätte, die der damaligen Zeitmode folgend den Namen „Bellevue“ erhielt. Diese Bezeichnung galt als vornehm und galant und war damit in der Umgebung nicht alleine: So gab es in Wesel eine Gaststätte mit dem Namen „Belverdere“. Erster Gastwirt von „Bellevue“ war Heinrich Angenendt mit seiner Frau Hendrina, die das Gebäude bewohnten und bewirtschafteten, das damals die Hausnummer 60 trug. Von 1886 an folgte die Familie Nyssing. Von dieser wird vielen Reesern vor allem die „Schluse Mina“ noch ein Begriff sein, die 1858 in Mehr als Wilhelmine Scheepers geboren wurde und Rudolf Nyssing heiratete. Durch die Nähe der Gaststätte zur Schleuse erhielt „Tante Mina“ ihren Beinamen und war durch ihre herzliche und ehrliche Art bis nach Wesel und Bocholt hin bekannt. In dieser Zeit, in der Autos noch nicht in Mode waren, sahen die Menschen bei ihren Wanderungen schon von Weitem das weiße Gebäude der Gaststätte: Ein eingeschossiges Haus auf der Deichkrone und dahinter ein Schleppdach bis unten, wo das Vieh stand. Ein gemütliches Restaurant, damals sehr beliebt bei vorbeifahrenden Bauern und älteren Damen aus Rees, um Eierpfannkuchen und die berühmten Schinkenschnittchen zu essen.

Zwischenzeitlich gab es mehrmals Namenswechsel: So musste die Gaststätte während des ersten Weltkriegs sowie zur NS-Zeit in die deutsche Übersetzung „Zur schönen Aussicht“ umbenannt werden.

Das alte Gebäude ist während des Kriegs nie zerstört worden. Und das, obwohl um das Haus herum 23 Bombenlöcher gefunden wurden und es mit seinem weißen Anstrich sicher ein leichtes Ziel gewesen ist. Vermutlich war das dem Umstand geschuldet, dass es Anlaufpunkt für die Piloten war. Lediglich in jüngerer Zeit ist das Gebäude mehrmals Opfer von Autounfällen gewesen. Fünf bis sechs Mal wurde ein Fahrzeug aus der Kurve geschleudert und prallte in die Hauswand. „Dabei gab es zum Glück nie Verletzte“, berichtet Gerda Middeke, deren Mann als Urenkel der „Schlusen Mina“ 1947 in seinem Elternhaus geboren wurde.

1957 wurde der Deich erhöht und die Straße asphaltiert. Dadurch entstand für die Gaststätte, die vorher auf gleicher Höhe mit der Straße lag, eine eigenartige Situation. Das Problem wurde durch einen Vorplatz gelöst, der durch eine Treppe erreichbar war und bei schönem Wetter die Möglichkeit bot, vor der Gaststätte die Aussicht auf das Reesereyland zu genießen.

Bis 1998 war die Gaststätte in Betrieb. In diesem Jahr verunglückte Middekes Mutter Anni tragisch in Rees. Seine Mutter hatte schon immer geahnt: „Wenn mit dem Deich mal etwas passiert, kann es sein, dass wir wegkommen.“ Und so geschah es dann auch: Vor 15 Jahren traten die Verantwortlichen des Deichverbands das erste Mal an das Ehepaar Middeke heran. „Das war erst einmal ein Schock für uns. Wir waren seit Generationen da. Dann haben wir aber überlegt: Die Nachbarschaft wird auch immer weniger und im Alter ist es sicher besser, im Dorf zu wohnen“, erzählt der 71-Jährige. So zogen die Eheleute nach Mehr. In die Stadt wollten wir nicht: „70 Jahre auf dem Land und dann in eine Mietwohnung? Das wäre komisch gewesen.“ Abgeschlossen hat das Ehepaar mit ihrem alten Zuhause aber noch nicht. „Unser Herz hängt nach wie vor an dem Gebäude“, verrät Gerda Middeke. Deshalb sind die Eheleute auch froh, wenn es im September endlich abgerissen wird. „Immer an dem heruntergekommenen Haus vorbeizufahren, ist nicht leicht.“ Ob sie sich den Abriss angucken, wissen die beiden noch nicht. Aber eins ist sicher: „Bellevue“ wird in ihrem Leben immer einen festen Platz haben. So hängt ein Bild der Gaststätte in ihrem neuen Wohnzimmer und auch das altbekannte Schild haben die Eheleute noch ganz nahe bei sich. Es hängt in ihrer Garage.

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