Emmerich Fall Gülsüm: "Nie gekannte Brutalität"

Emmerich · Tag der Gutachter beim Mordprozess: Ein Experte für Ehrenmorde spricht von großer Gewalt bei der Tat und gibt einen Einblick in die archaische Welt der Familie des Mordopfers. Ein weiterer Gutachter hat sich eingehend mit Davut, Gülsüms Bruder, befasst.

Gülsüm: Prozessauftakt am Landgericht Kleve
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Dr. Jan Kizilhan gehört zu den wenigen Menschen in Deutschland, die sich eingehender mit dem Thema Ehrenmord beschäftigt haben. Der Orientalist und Psychologe hat 50 solcher Fälle untersucht. "Seit 14 Jahren bin ich als Gutachter vor Gericht tätig", so Kizilhan im Mordprozess Gülsüm vor dem Landgericht in Kleve, "aber diese Brutalität der Verletzungen habe ich bisher nicht erlebt."

Auch am siebten Verhandlungstag im Prozess gegen Gülsüms Bruder Davut, seinen Vater sowie gegen "Miro M." (vorgestern stellte sich heraus, dass er eigentlich anders heißt) wird einmal mehr klar, dass das, was vor Gericht zur Sprache kommt, so wenig zusammenpasst wie Teile aus verschiedenen Puzzlespielen.

"Frauen sind Besitz"

In seinem Gutachten hatte der Wissenschaftler einen verstörenden Einblick in die fremde, archaisch-patriarchalische Welt der Familie Gülsüms gegeben. Sie stammt aus der Provinz Mardin im Südosten der Türkei. "Es ist die Provinz mit den meisten Ehrenmorden. Die Gesellschaft dort funktioniert auf der Basis von Ehre. Ehre bedeutet Respekt, auch vor dem Besitz der anderen. Zum Besitz gehören auch Frauen."

Gehe eine Frau vor der Ehe eine sexuelle Beziehung ein, sei eine Ehrverletzung gegeben. "Ist die Ehre der Tochter verletzt", so Kizilhan, "ist die Gesamtfamilie verantwortlich." Es handele sich um eine kollektive Gesellschaft, in der der Einzelne wenig bedeute und "notfalls sogar geopfert werden kann".

Dr. Kizilhan betonte, dass der Islam Ehrenmorde nicht kenne. Vielmehr würden die altertümlichen Verhaltensweisen mit Hilfe der Religion verbrämt. Allerdings: Was auch immer dazu geführt hat, dass eine Familie glaubt, ihre Ehre verloren zu haben — zwangsläufig in einen Mord mündet das nicht. Eigentlich hätte der Vater nur die Ehe mit dem albanischen Freund arrangieren müssen, um die Ehre wiederherzustellen. Warum dies nicht geschehen sei, könne er sich nicht erklären, so Kizilhan.

Der zweite Gutachter des Tages ist Prof. Dr. Norbert Leygraf, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen. Er berichtet, wie Davut ihm das Tatgeschehen schilderte: "Er stand kurz davor, in Tränen auszubrechen."

Danach referiert Leygraf Davuts aktuelle — die dritte — Tatversion. "Miro" habe ihn angestiftet ("du musst was tun"). Er habe seine Schwester kurz gedrosselt, dann geschockt von ihr abgelassen. Dann sei "Miro" hinzugekommen und habe Gülsüm erschlagen. Davut selbst sei von "Miro" gefesselt worden. Der dritte Angeklagte "Miro M.", schüttelt seinen Kopf, als er die vom Gutachter wiedergegebene Aussage vernimmt.

Nach einer halben Stunde kommt er zur entscheidenden Frage — der Schuldfähigkeit. Es gebe keinen Hinweis auf eine psychiatrische Erkrankung. Die Höhe des Alkoholkonsums sei nicht ganz klar, allerdings sei keine alkoholbedingte Leistungsbeeinträchtigung zu erkennen.

Davut leide nicht an einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, und es seien auch keine Auffälligkeiten in seiner Persönlichkeit zu entdecken gewesen — "jedenfalls nichts, was auf eine Persönlichkeitsstörung hindeutet". Fazit, so Leygraf: "Nichts spricht für das Vorliegen einer psychischen Störung, es gibt keine Hinweise auf Minderung der Schuldfähigkeit."

Die Verhandlung wird am Freitag fortgesetzt.

(RP)
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