Corona und die Folgen „Mädel, da müssen alle durch!“

Cornelia Reijers, die mit ihren 94 Jahren der Risikogruppe angehört, leidet darunter, dass kein Besuch mehr kommt. RP-Mitarbeiterin Monika Hartjes beschreibt, wie ihre Mutter die Lage meistert.

 Das Coronavirus und seine Folgen stellen das Leben derzeit auf den Kopf. Auch für Cornelia Reijers (unten).

Das Coronavirus und seine Folgen stellen das Leben derzeit auf den Kopf. Auch für Cornelia Reijers (unten).

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Ihre Welt besteht nur noch aus rund 60 Quadratmetern: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Flur. Nur noch hier kann sich meine Mutter, die 94-jährige Cornelia Reijers, mit ihrem Rollator frei bewegen. Das Corona-Virus hat ihr Umfeld fest im Griff. Sie gehört zur Risikogruppe, gerade auch, weil zwei Krankenhausaufenthalte zu Beginn des Jahres sie sehr geschwächt haben. Ich bin die einzige Person, die regelmäßig zu ihr kommt, um sie zu betreuen. „Mädel, da müssen alle durch“, macht sie sich Mut.

Ihr Leben besteht nur noch aus Schlafen, Essen, Fernsehgucken – Lebensqualität sieht anders aus. So geht es jetzt vielen Senioren. „Seit ich zurückdenken kann, war die Situation noch nie so schlimm“, sagt meine Mutter. Dabei hat sie viel erlebt.

Sie wurde im Januar 1926 in Mijdrecht in den Niederlanden geboren. Mit ihren Geschwistern musste sie bereits früh in der elterlichen Gärtnerei helfen, hatte aber trotzdem das Glück, – in damaliger Zeit fast eine Ausnahme für Frauen – dass sie einen eigenen Beruf erlernen durfte: Sie wurde Schneiderin. 1952 heiratete sie Henk Reijers, Gärtner aus Gendringen. Sie beschlossen, nach Deutschland zu gehen, wo meinem Vater in Dortmund-Höchsten eine Stelle angeboten wurde. Damals nicht einfach, auch weil die deutsch-niederländische Beziehung alles andere als gut war. Es war zunächst eine schwere Zeit für meine Mutter Corry – wie sie meist genannt wird. Zumal sie kein Wort Deutsch sprach.

Während mein Vater über seine Arbeit viele Kontakte zu anderen Menschen hatte, blieb meine Mutter mit dem im Jahre 1953 Erstgeborenen zu Hause. Doch sie boxte sich durch, wollte sich integrieren, ging unter die Leute, um die Sprache zu lernen. Lustig fanden wir Kinder die Anekdote von dem Gewürzeinkauf. Sie brauchte dringend „Kanel“, doch keiner verstand sie. Bis sich schließlich nach einer „Geruchsprobe“ herausstellte, dass es sich um Zimt handelte.

Bereits wenige Jahre später kam die kleine Familie nach Emmerich, wo mein Vater in einem Gärtnereibetrieb am Spillingscher Weg arbeitete. Das Unternehmen stellte auch eine Wohnung. Alle zwei Jahre kam Nachwuchs: 1956 ein Sohn, 1958 Zwillingsmädchen und 1960 ein weiteres Mädchen. Mein Vater war öfter krank, der Betrieb machte zu und wir sollten unser Zuhause verlieren. Doch auch hier kämpfte meine Mutter sich durch: Sie sorgte dafür, dass wir ein Baugrundstück bekamen und innerhalb kürzester Zeit ein eigenes Haus bauen konnten.

Als mein Vater sehr krank wurde, verkauften meine Eltern schweren Herzens das Haus und zogen vor rund 15 Jahren in eine behindertengerechte Wohnung mit Blick auf den Rheinhafen. 2008 starb mein Vater. Doch meine Mutter war nie allein: Fünf Kinder und Schwiegerkinder, elf Enkel, Freunde aus dem Kirchenchor, dem Kegelclub, der KAB, der kfd, Nachbarn und ehemalige Nachbarn und Arbeitskollegen besuchten sie regelmäßig oder sie ging dorthin. Mit zunehmenden Alter fielen ihr die Besuche immer schwerer, aber sie blieb der Mittelpunkt der Familie.

Obwohl die Kinder unter anderem in Essen und Augsburg wohnen und viele der Enkel studieren oder im Berufsleben stehen, war bei ihr immer etwas los.

Bis jetzt. Corona unterbindet die Besuche. „Die sollen mal alle zuhause bleiben, bevor sie sich anstecken“, sagt meine Mutter. Die anderen tun das schweren Herzens. Während die Jüngeren Kontakte über die Social Medien pflegen, gibt es für meine Mutter nur ab und zu ein Telefongespräch. Der Besuch des Hausarztes ein- bis zweimal im Monat gehört zu den Highlights. Sie wollte kein Handy und keinen Computer. „Was soll ich damit, wir alten Leute kommen doch mit der ganzen technischen Entwicklung nicht mehr mit“, sagt sie. Früher war sie viel beschäftigt, hatte immer eine Arbeit in der Hand, nähte, strickte Socken für die Enkel, häkelte Spitzenumrandungen für Tischdecken. Doch das geht nicht mehr, seit die Arthrose in den Händen ihr die Geschicklichkeit genommen hat. Und weil sie auch nicht mehr so gut sehen kann, fällt Lesen als Beschäftigung aus. Sie räumt ein bisschen auf und putzt Staub. „Aber der Tag wird sehr lang“, sagt sie.

So bin ich ihr einziger Kontakt. Ich achte aufs gründliche Händewaschen, statt einer Umarmung streichele ich ihr den Rücken oder die Schulter. Ich merke, wie alle ihr fehlen. Ich nehme mir Zeit, um mit ihr zu frühstücken, erledige die anfallenden Arbeiten, die Apothekengänge, die Einkäufe. Sie wünscht sich, dass ich mit ihr im Rollstuhl am Rhein spazieren gehe, weiß aber selber, dass das zurzeit nicht möglich ist. „Ich kann ja wenigstens bei schönem Wetter noch auf dem Balkon sitzen und auf den Rhein schauen“, tröstet sie sich.

Wir unterhalten uns über die Situation, oft sitzen wir einfach nur schweigend da. Auf ihre Frage: „Was gibt es Neues?“ kann ich nur antworten: „Nur Corona-Informationen!“ Das gesellschaftliche Leben liegt brach, für Risikopatienten bedeutet es Einsamkeit. Wenn ich gehe, ruft sie mir immer hinterher: „Mädel, pass auf Dich auf. Und bleibe gesund!“

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