Interview Karl-Heinz Florenz Der niederrheinische Europäer tritt ab

Niederrhein · Seit 1989 gehört der Christdemokrat Karl-Heinz Florenz dem Europaparlament an. Jetzt hört er mit 71 Jahren auf.

 Karl-Heinz Florenz vor seinem Hof Groß-Opholt.

Karl-Heinz Florenz vor seinem Hof Groß-Opholt.

Foto: Dieker, Klaus (kdi)

Seit 1989 vertritt Karl-Heinz Florenz (71) den Niederrhein in Brüssel und Straßburg. Der Neukirchen-Vluyner ist Mitglied im Europaparlament für den Rheinkreis Neuss, Mönchengladbach, Krefeld und die Kreise Viersen, Wesel und Kleve.

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag in Brüssel und Ihren ersten in Straßburg?

Karl-Heinz Florenz Am ersten Tag habe ich mein Büro in Brüssel eingerichtet. Es war so groß wie ein Hundezwinger, mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Telefon. Dazu kam eine Kugelkopfschreibmaschine von IBM, die wir selbst gekauft haben. Tipp-Ex war unser bester Freund. Zwei Wochen später ging das Gleiche in Straßburg los, wo der zweite Sitz des Europarlamentes ist.

 Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe (links), Karl-Heinz Florenz und CDU-EU-Parlamentarier Elmar Brok.

Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe (links), Karl-Heinz Florenz und CDU-EU-Parlamentarier Elmar Brok.

Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Kurz nachdem Sie nach Brüssel und Straßburg gegangen sind, hat sich Deutschland, Europa und die Welt verändert.

Florenz In der Woche vom 9. November 1989 ist in Berlin die Mauer gefallen. Wir hatten unsere auswärtige Sitzung der EVP-Fraktion in Berlin. Wir waren sprachlos. Wir haben uns gefragt, was jetzt passiert. Unsere britischen Kollegen hatten mit ihrem typischen Humor gesagt: „Die Briten schwärmen tagsüber für die Wiedervereinigung und beten nachts, sie möge nicht kommen.“ Mit dem Fall der Mauer ist der Eiserne Vorhang zerrissen, der Europa und die Welt in Ost und West aufgeteilt hat.

 Der Europa-Parlamentarier im Anzug kann auch anders: Karl-Heinz Florenz als Pirat im Karneval 2007.

Der Europa-Parlamentarier im Anzug kann auch anders: Karl-Heinz Florenz als Pirat im Karneval 2007.

Foto: Dieker, Klaus/Dieker, Klaus (kdi)

Damit hat sich auch die Europäische Union verändert.

Florenz Die Länder des einstigen Ostblocks haben sich der Europäischen Union angenähert. Am 1. Mai 2004 traten zehn Länder auf einmal in die EU ein, zum Beispiel Estland, Polen, Tschechien, Slowenien und Ungarn. Mir ging das zu schnell, vor allem bei Rumänien und Bulgarien, die 2007 eingetreten sind. Ich habe als einer der wenigen Deutschen dagegen gestimmt und Druck in der Fraktion bekommen. In Rumänien und Bulgarien herrschen Korruption. Wirtschaftlich können sie im europäischen Wettbewerb nicht bestehen.

 Karl-Heinz Florenz im Gespräch mit Landwirten am Niederrhein.

Karl-Heinz Florenz im Gespräch mit Landwirten am Niederrhein.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Sie hatten kurz darauf den Vorsitz im Ausschuss für Umwelt, Verbraucherschutz und Gesundheit abzugeben.

Florenz Ja, dies hatte mit dem turnusgemäßen Wechsel nach zweieinhalb Jahren an der Spitze des Hauses zu tun. Wir hatten mit Hans-Gerd Pöttering einen deutschen Parlamentspräsidenten bekommen. Dies hatte Auswirkungen auf alle anderen zentralen Positionen. Damit musste ich als deutscher Ausschussvorsitzender meinen Platz räumen.

Den Eintritt von Rumänien und Bulgarien beurteilen Europakritiker genauso wie Sie.

Florenz Ich höre jeden Tag, dass Europa nichts gebacken bekommt. Das ist bei der Aufteilung der Flüchtlinge an Ungarn und Polen tatsächlich so. Allerdings ist dies das Verschulden einzelner Mitgliedsstaaten und nicht Europas an sich. Ungarn und Polen wollen keine Flüchtlinge aufnehmen und nehmen keine auf. Sie lehnen eine europäische Flüchtlingspolitik ab. Sie wollen alles national entscheiden. Aber im Flüchtlingsjahr 2015 haben wir alle gesehen, dass eine nationale Flüchtlingspolitik nicht funktioniert. Zum Glück haben sich die 28 EU-Länder danach auf eine Sicherung der Außengrenzen Europas geeinigt.

Sehr viele Europakritiker klagen außerdem, die Europäische Union würde Deutschland nur Geld kosten.

Florenz Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern zahlt den größten Anteil an der Europäischen Union. Das Ranking ändert sich jedoch, wenn die Bevölkerung eines Mitgliedsstaates als Bemessungsgrundlage herangezogen wird. Da landen wir Deutschen an siebter Stelle. Wir bekommen über Strukturfonds, Regionalfonds und Agrarausgleichszahlungen viel Geld zurück. In der Brutto-Netto-Rechnung kostet Deutschland die Europäische Union jedes Jahr 10,7 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Deutschland zahlt in die jungen Bundesländer jedes Jahr über 13 Milliarden Euro. Der Bundeshaushalt liegt bei rund 360 Milliarden Euro. Nicht vergessen werden darf, dass sich die EU-Mitgliedschaft nicht mit einer starren Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben beantworten lässt. Der Industriestandort Deutschland ist mit Abstand der größte Profiteur des Europäischen Binnenmarktes. 57 Prozent unserer Exporte gehen in andere Mitgliedstaaten. Ohne diesen Binnenmarkt würde es unseren heutigen Wohlstand nicht geben. Europa hat über 70 Jahre Frieden, so lange wie nie zuvor in der Geschichte. Die einzelnen Länder, zum Beispiel Polen, hätten ohne EU kein Gewicht in der Sicherheitspolitik.

Sie sprechen die Sicherheitspolitik an. Viele Europabefürworter fordern mehr europäische Sicherheitspolitik.

Florenz Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist in Ixelles bei Brüssel geboren. Sie besucht öfter die EVP-Fraktion. Sie hat lange gesagt, die einstigen Staaten des Warschauer Paktes, zum Beispiel Polen, Slowakei oder Ungarn, würden sich dagegen sträuben, wieder in ein festes Bündnis zu gehen. Sie hätten sich in dem damaligen Pakt nicht wohl gefühlt, der von der Sowjetunion dominiert worden wäre. Am 12. Juli 2018 war US-Präsident Trump in Brüssel bei der Nato. Er bewunderte das neue Nato-Gebäude, das pompös ist, aber auch funktionell. Es sagte, es sei sehr groß und teuer. Nebenbei teilte er mit, die Nato sei sowieso obsolet. Alle europäischen Regierungschefs kämpften mit der Fassung, auch Kanzlerin Angela Merkel. Als Ursula von der Leyen danach wieder in der EVP-Fraktion berichtete, sagte sie, die Staaten, die sich bislang gegen eine europäische Sicherheitspolitik ausgesprochen hätten, würden ihr jetzt sagen: „Ursula go ahead!“ Ursula schreite voran für eine europäische Sicherheitspolitik. So hat Donald Trump das Zusammengehörigkeitsgefühl gesteigert. Jetzt sind auch Polen und Ungarn gesprächsbereit.

Europolitiker sind Langläufer…

Florenz Die Verfahren dauern lange. Jede Entscheidung muss neben dem Europaparlament und dem Europäischen Ministerrat auch in den Mitgliedsländern national umgesetzt werden. Bei der Verteidigungspolitik handelt es sich um eine rein zwischenstaatliche Kooperation der Regierungen. Wichtige Beschlüsse können im Rat grundsätzlich nur einstimmig gefasst werden. Jedes Land müsste in seiner Verfassung festschreiben, dass Verteidigungspolitik ein europäisches Thema ist. Das ist nicht nur in Ungarn schwierig, sondern auch in Österreich und anderen Ländern, weil sie auf ein Stück Souveränität verzichten würden. Eine europäische Sicherheitspolitik zu etablieren, dauert mindestens 15 bis 20 Jahre.

Oder länger, wie die Klimapolitik zeigt, die eines ihrer großen Themen als Europapolitiker ist. Sie waren 30 Jahre lange Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Verbraucherschutz und Gesundheit, von 2004 von 2007 sogar als Vorsitzender.

Florenz Ja, ohne meine Frau Gisela wäre das gar nicht möglich gewesen. Bei ihr bedanke ich mich besonders. Ich durfte die internationalen Klimaverhandlungen über alle die Jahre hautnah miterleben und die EVP-Fraktion vertreten, von Bali bis Bonn, von Warschau bis Lima. Das Kyoto-Protokoll wurde 1997 in Japan unterzeichnet und legte international verbindliche Emissionsreduktionsziele fest. 20 Jahre haben wir uns daran ausgerichtet und versucht, es umzusetzen.
Im Jahr 2017 folgte das Pariser Abkommen. Der Sommer 2018 war extrem trocken, nicht nur in Mitteleuropa, sondern weltweit. Dazu kamen die Überschwemmungen. Das war ein Warnsignal von unserer Erde. Mit unserem Klima ist etwas nicht in Ordnung. Es muss Veränderungen geben, die auch schmerzlich sein können. Aber nur so können wir letztlich überleben. Wir können nicht so weiterleben und Ressourcen wie heute verbrauchen, so als ob es keine Generationen mehr nach uns gibt.

Deshalb wollen Sie sich weiter für Klimaschutz und Nachhaltigkeit engagieren, wenn Sie aus dem Europaparlament ausscheiden.

Florenz Wir müssen in Zukunft mit der gleichen Benzinmenge doppelt so weit fahren und nur die Hälfte an Abgasen ausstoßen. Wir müssen effizienter werden. Wir müssen unsere Wirtschaft von einer linearen Wirtschaft, in der wir vieles nur einmal kurz gebrauchen und dann wegwerfen, zu einer Kreislaufwirtschaft umbauen. So verlängert sich der Lebenszyklus der Produkte und Abfälle werden auf ein Minimum reduziert. Der Abfall eines Unternehmens kann bereits Rohstoff für einen anderen Hersteller sein. Denken Sie zum Beispiel an Biomasse. Es geht um bessere, effektivere Nutzung, auch um Recycling. So entwickelte die Chemieindustrie gerade neue Recyclingverfahren – ein enormes Potenzial. Grundsätzlich ist die Kreislaufwirtschaft eine Riesenchance für unsere von Rohstoffen abhängige deutsche Industrie, die wir teuer aus politisch instabilen Ländern einkaufen.

Deshalb wollen Sie in einer internationalen Agentur mitarbeiten, die sich in Brüssel für Nachhaltigkeit einsetzt.

Florenz Ich will nicht die Interessen von Mercedes, VW und Audi vertreten, es sei denn, sie arbeiten am Thema Nachhaltigkeit mit. Ich wurde angesprochen, die Agentur zu unterstützen, weil ich über 30 Jahre lang ein Netzwerk mit vielen Kontakten aufgebaut habe.

Ihre persönliche Bilanz nach 30 Jahre als Europaparlamentarier?

Florenz Europa ist sicherer geworden, entwickelt international sein politisches Gewicht. Wir sind aber noch nicht da, wo wir hin wollen. Europa muss anstreben, eine tonangebende Rolle in der Welt zu spielen, auch bei der Nachhaltigkeit. Ich wünsche Stefan Berger aus Nettetal Fortune. Er wird als CDU-Kandidat im Europarlament meine Nachfolge antreten. Ich bitte die Niederrheiner, am 26. Mai zur Europawahl zu gehen. Denn wenn sie wählen, bestimmen sie mit.

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