Rees Der mit den Händen sehen kann

Rees · Heinrich R. musste viele Schicksalsschläge verkraften. Er kam mit einer geistigen Behinderung zur Welt, im Alter von 27 Jahren verlor er auch noch sein Augenlicht. Die Hände sind für ihn die Verbindung zur Außenwelt geworden.

Ganz entspannt, mit übereinander geschlagenen Beinen, sitzt er da in seinem Sessel am Fenster des Raumes, der sein Lebensmittelpunkt ist. Aus den Kopfhörern ertönt Musik. Draußen hat der Schnee den Ort in eine Winterlandschaft verwandelt, doch das sieht Heinrich R. nicht, er kann es nicht sehen. Angelika Wissen, Mitarbeiterin des HPH-Wohnbereichs im Lilienweg in Mehr, berührt sanft eine Hand des 58-Jährigen, um dessen Aufmerksamkeit zu gewinnen.

"Heinrich, du hast Besuch", ruft sie mit erheblicher Lautstärke und direkt in Heinrichs Ohr, einerseits, um die Musik zu übertönen, zum anderen, weil Heinrich schwerhörig ist. Das Schicksal hat es mit Heinrich R. nicht besonders gut gemeint. Denn er ist nicht nur mit einer geistigen Behinderung geboren worden, sondern im Alter von 27 Jahren auch noch nach und nach erblindet.

Seit 2009 in Mehr

Heinrich, der zu all dem nur mühsam und nicht ohne Begleitung gehen kann, hat stets in seiner Familie gelebt, und seit 2009 hat er hier in Mehr, liebevoll betreut von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des HPH-Wohnbereichs, ein neues Zuhause gefunden. Trotz seiner Behinderung wohnt in Heinrich R. ein ungemein wacher Geist, und seine zittrigen Hände besitzen eine Geschicklichkeit, die eigentlich unfassbar ist. Heinrichs besondere Gabe besteht darin, kleine elektrische Geräte herzustellen.

Dabei verwendet er nicht etwa vorgefertigte Teile aus den entsprechenden Technik-Baukästen, sondern (außer Kabel, Batterien und Glühlampen) vor allem Material, das normalerweise im Müll landet: Reststücke von Gummibändern, Teile von Plastik-Kleiderbügeln, das Innere von Toilettenrollen, Silberpapier von Schokolade und die gelben Kunststoff-Hüllen aus den berühmten Überraschungs-Eiern, deren Schokomantel Heinrich übrigens auch gern mag. "Zeig uns doch einmal deinen Ventilator", schlägt Angelika Wissen vor.

Sagt es und gibt Heinrich ein etwas futuristisch anmutendes, einer Weltraum-Rakete ähnelndes Gerät in die Hand.

Sogleich löst Heinrich das Kabel von dem Ventilator, drückt zwei mit Silberpapier umwickelte Bauteile gegeneinander, gibt den Ventilatoren-Flügeln einen leichten Schubs, und schon setzen sich diese in Bewegung, zuerst langsam, dann immer schneller. Im Sommer benutze Heinrich den Ventilator, Marke Eigenbau, um sich kühle Luft zuzufächeln, berichtet die HPH-Mitarbeiterin, ehe sie weitere Gegenstände zeigt, die Heinrich geschaffen hat: eine Katze aus einfachem Konstruktionsmaterial, komplett mit vier Beinen, langem Schwanz und sogar mit angedeuteten Schnurhaaren.

Und noch mehr elektrische Geräte, einen dreiteiligen Leuchter und eine Lampe, die an eine Ölbohrinsel im Meer erinnert. "Schalte doch einmal die Lampe ein, du kannst das viel besser als ich", wendet sich Angelika Wissen erneut an Heinrich. Dieser ergreift sein kleines Kunstwerk und drückt den von Gummibändern gehaltenen "Schalter" herunter: Ein kaum merkliches Schmunzeln spielt dabei um Heinrichs Mund, denn er weiß genau, dass seine Lampe tatsächlich brennt, er "sieht" es mit seinen Händen.

Heinrichs Geräte seien nicht von Dauer, berichtet die Mitarbeiterin, das liege aber keineswegs an deren Haltbarkeit, sondern allein daran, dass er seine Konstruktionen ständig verändert oder umbaut, um wieder etwas neues herzustellen.

Als ich mich verabschiede, bin ich tief berührt und dankbar, Heinrich R. und einige andere behinderte Menschen des HPH-Wohnbereichs in Mehr sowie deren Betreuer kennengelernt zu haben.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort