Duisburg Vom Zeitgenossen zum Zeitzeugen

Duisburg · Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Hermann Strasser lehrte von 1977 bis 2007 an der Duisburger Universität. Jetzt veröffentlicht er seine Autobiografie, in der Persönliches und Zeitgeschichtliches gekonnt verbunden werden.

Duisburg: Vom Zeitgenossen zum Zeitzeugen
Foto: Probst, Andreas (apr)

Hermann Strasser ist ein Mann, der sich für Vieles interessiert, besonders für Menschen in ihren Rollen, Beziehungen und Situationen. Vielleicht hätte er Psychologe werden sollen, aber am besten ist er wohl in der Profession aufgehoben, in der er als Hochschullehrer gewirkt hat. Prof. Dr. Hermann Strasser ist ein Vollblutsoziologe. Von 1977 bis 2007 hat er an der Universität in Duisburg gelehrt. Bekannt war er aber nicht nur in Akademikerkreisen, sondern einem großen Publikum. Strasser beschäftigte sich als Wissenschaftler mit soziologischer Theorie, mit dem sozialen Wandel, mit sozialer Ungleichheit, mit Drogen, Arbeitslosigkeit, Kultur und sozialem Kapital. Er leitete Forschungsprojekte, die Überschriften tragen wie "Polizisten im Alltagskonflikt", "Bürgerschaftliches Engagement und Altersdemenz", "Kinderarbeit - Kulturarbeit mit Kindern" oder auch "Gewaltprävention bei ausländischen Jugendlichen". Kurzum: Hermann Strasser ist ein Wissenschaftler, der die Probleme der Gegenwart im Auge hat, der nah an der Wirklichkeit forscht - und dem es zu wenig ist, sein Brot als Uni-Gelehrter im Elfenbeinturm zu verdienen.

All das muss man wohl vorausschicken, um zu erklären, weshalb seine gerade erschienene Autobiografie "Die Erschaffung meiner Welt: Von der Sitzküche auf den Lehrstuhl" so heißt und so interessant ist.

Hermann Strasser wurde 1941 im österreichischen Bergdorf Altenmarkt im Pongau geboren. Seine Eltern besaßen eine Bahnhofsgastwirtschaft mit einer so genannten "Sitzküche", in der sich die Gäste und zum großen Teil auch die Familie Strasser aufhielten. Und in dieser Sitzküche als Bühne verschiedener Rollenspieler habe sich bei ihm, so Strasser, der Impuls entwickelt, der ihn schließlich zum Sozialwissenschaftler werden ließ.

Strasser schildert überaus lebendig die verschiedenen Stationen seines Werdegangs. Dazu gehören die Handelsakademie in Salzburg und das Studium der Nationalökonomie an den Universitäten in Innsbruck und Berlin (1961-1967), das er mit dem Doktor abschloss. Dann ging es mit Ehefrau und einem Fulbright-Stipendium über den großen Teich in die USA, wo Strasser ein Postgraduierten-Studium der Soziologie an der Fordham Universität in New York absolvierte, den amerikanischen Doktor erwarb und zugleich als Dozent tätig war. 1976, während er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Höhere Studien in Wien war, erfolgte seine Habilitation in Soziologie an der Universität Klagenfurt. Zeitlich endet die Autobiografie 1977/ 1978, als Strasser die Professur im Fach Soziologie an der Universität in Duisburg übernahm und von Wien nach Ratingen übersiedelte. Der Weg von der Sitzküche auf den Lehrstuhl war absolviert. Glücklicherweise hakt Strasser in seiner Autobiografie seine akademische Karriere nicht einfach nach dem Muster ab: "Dann war ich dort, danach habe ich das... und am Schluss konnte ich...". Vielmehr verbindet der Autor seine persönliche Geschichte mit der Zeitgeschichte, manchmal auch vorausgreifend, auf eine Weise, die zum Immer-weiter-Lesen reizt.

Strasser ist zwar ein international vernetzter und renommierter Sozialwissenschaftler, aber keiner, der den soziologischen Jargon schätzt. Strasser will verständlich sein. Das ist seine Devise bei seinen wissenschaftlichen Publikationen, die sich von anderen seiner Zunft angenehm abheben. Beim Schreiben seiner Autobiografie gelingt es ihm darüber hinaus, spannend zu schreiben. Man möchte als Leser einfach wissen, wie es mit den Strassers, die einige Abenteuer erleben, weitergeht. Durch die Verbindung von Persönlichem und Zeitgeschichte, vor allem der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich, Deutschland und den USA, macht er den Schritt vom Zeitgenossen zum Zeitzeugen. In seine Autobiografie geht durchaus die Weisheit des Sozialwissenschaftlers ein, der das Zeitgeschehen analysiert hat. Und der glänzend informiert ist! Was er beispielsweise über Kennedy und seinen berühmten Ausspruch "Ich bin ein Berliner" oder über die letzten Jahre von Hermann Göring mitteilt, ist höchst interessant und korrigiert so manches, was man aus der jüngeren Geschichte zu kennen glaubt. Und dann gibt es noch die vielen überraschenden Begegnungen, die Strasser, ohne sich selber dabei emporzuheben, meist mit einem kleinen Schmunzeln zwischen den Zeilen beschreibt. Dazu gehört der Franz Beckenbauer ebenso wie die Senta Berger, die einst in der Nachbarschaft der Strasser-Familie wohnte.

Nicht zuletzt spürt man auf jeder Seite Strassers Freude an knapp formulierten Erkenntnissen. Sein Buch ist reich an herrlichen Zitaten, die man meist weder in den üblichen Nachschlagewerken noch im Internet finden kann, sondern eine Frucht von Strassers Belesenheit, Gespür für Humor und Neugier ist. Das Buch ist 632 Seiten dick, kostet aber nur 19,99 Euro. Vielleicht hätte Strasser einen höheren Preis veranschlagen können, gebremst wurde er möglicherweise durch ein Zitat seines Lieblingskabarettisten Karl Farkas: "Beim Denken ans Vermögen leidet oft das Denkvermögen."

Hermann Strasser plant noch mindestens einen weiteren autobiografischen Band, auf den man sich nur freuen kann.

Hermann Strasser: "Die Erschaffung meiner Welt. Von der Sitzküche auf den Lehrstuhl." 632 Seiten, 19.30 Euro. Ratingen: (Create Space), ISBN 9781500630256.

(RP)
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