Theater in Duisburg Spektakuläre Inszenierung von Shakespeares König Lear

Duisburg · Das Staatsschauspiel Dresden gastierte mit einer spektakulären Interpretation von Shakespeares „König Lear“ in Duisburg, bei der die Sicht der „bösen“ Töchter in den Mittelpunkt gerückt wird.

 Auf dem Bild (von links): Die Schauspieler Karina Plachetka, Agnes Mann, Kriemhild Hamann und Torsten Ranft.

Auf dem Bild (von links): Die Schauspieler Karina Plachetka, Agnes Mann, Kriemhild Hamann und Torsten Ranft.

Foto: Sebastian Hoppe

Shakespeares „König Lear“ ist üblicherweise eine schwierige Paraderolle für einen Schauspieler im weit fortgeschrittenen Alter. Denn Lear möchte die Bürde des Königsamtes an Jüngere abgeben, um, von allen Mühen und Sorgen befreit, dem Tod „entgegenzukrabbeln“, wie es in der neuen Übersetzung von Miroslava Svolikova heißt. In der Inszenierung der britischen Regisseurin Lily Sykes ist Lear (facettenreich gespielt von Torsten Ranft) aber kein Greis, sondern ein Mann, der nach unseren Maßstäben noch einige Jahre bis zur Rente zu arbeiten hat. Aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, Verantwortung abzugeben, zumal er ja auf seine Privilegien, darunter 100 Ritter, die ihm zu Diensten sind, nicht verzichten zu müssen glaubt. Ohne Verantwortung bedeutet hier aber zugleich verantwortungslos: Er fordert von seinen drei Töchtern Liebesbekundungen ein, nach deren „Größe“ er auch seine Länder verteilen möchte.

Die Töchter Goneril (Karina Plachetka) und Regan (Agnes Mann) überbieten sich gegenseitig in ihren Liebesschwüren, Lears jüngste und eigentlich bevorzugte Tochter Cordelia (Kriemhild Hamann, sie spielt auch den Narr) hingegen steigt aus dem Liebeswettbewerb gegenüber dem Vater aus und bekundet, ihn nur so zu lieben, wie es sich für eine Tochter geziemt. Das empört Lear und er verstößt Cordelia.

So kennt man das Shakespeare-Stück, das aufgrund seiner Härte (Blendung Glosters auf offener Bühne), seinen komplizierten Personenkonstellationen und seinen Handlungsspiegelungen immer eine Herausforderung ist. Lily Sykes entschlackt die Shakespeare-Vorlage, verzichtet auf viele Nebenfiguren und entdeckt dennoch Neues oder erfindet Neues, wie beispielsweise die Umwandlung des Grafen Glosters in eine Mutterrolle (Hannelore Koch). Während üblicherweise die Geschichte des von seinen bösen Töchtern getäuschten Königsvaters, der seine gute, ihn wirklich liebende Tochter verkennt, erzählt wird, bezieht die britische Regisseurin die Perspektive der beiden „bösen“ Töchter ein. Und da kommt heraus, dass deren Bosheit vom Vater selber mitverursacht ist. Man kann sogar annehmen, so schimmert es zwischen den Shakespeare-Zeilen nach Meinung von Lily Sykes durch, dass Lear seine Töchter missbraucht haben könnte. Junge Mädchen im Statistentrio deuten eine solch problematische Sozialisation an.

Ungeachtet dieser vorausgehenden Textanalyse, die durch die neue Übersetzung untermauert wird, bietet dieser Shakespeare aus Dresden ungemein kraftvolles Theater, bei dem an Effekten nicht gespart wird. Die Bühne ist ein kalter Raum, der von oben durch einen riesigen Propeller belüftet wird, der aber zugleich auch ein bedrohliches Kriegsgerät ist. Das Schauspiel-Ensemble agiert mitreißend, kostet den schwarzen Humor voll aus. Auf bisweilen witzige Weise wird auch so manches unterlaufen, was uns heute von Shakespeares Vorlage distanzieren würde. Etwa die Parallelgeschichte vom intriganten unehelichen Edmund, der vom edlen Edgar gegen Ende des Stücks besiegt wird. In der Dresdner Inszenierung wird Edmund vom athletischen Matthias Reichwald verkörpert, der unmöglich dem schmächtigen Edgar (gespielt von Marin Blülle) unterlegen sein könnte. Beim Dresdner Lear vertritt sich Edmund den Fuß und gesteht gleich seine Untaten.

Bei allem Witz ordnet Lily Sykes den Lear gleichwohl mit angemessenem Ernst in seine Entstehungszeit (1605) ein. Damals waren die Zeiten unruhig. Elisabeth die Erste starb 1603 kinderlos, es gab ein Machtvakuum. Zugleich wurde die Bevölkerung von der Pest dezimiert, was in der Inszenierung am Schluss durch das Tragen der schnabelförmigen Pestmasken sichtbar gemacht wird. Unruhige Zeiten: damals wie heute.

Das Publikum im vergleichsweise schwach besuchten Duisburger Theater (Corona-Angst) spendete dem grandiosen Ensemble viele Minuten Beifall.

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