Loveparade Loveparade-Opfer fordern Gerechtigkeit

Düsseldorf · Die ersten Beteiligten der Loveparade-Katastrophe haben Entschädigungszahlungen erhalten. Doch vielen Geschädigten und Hinterbliebenen geht es um mehr als nur Geld. Dabei helfen ihnen Rechtsanwälte wie Julius Reiter und der Ombudsmann der Landesregierung.

 Anwalt Julius Reiter vertritt zahlreiche Opfer der Loveparade.

Anwalt Julius Reiter vertritt zahlreiche Opfer der Loveparade.

Foto: Bretz, Andreas

Am Besprechungstisch der Düsseldorfer Kanzlei Baum, Reiter & Collegen werden üblicherweise Angelegenheiten des Bank- und Kapitalmarktrechts besprochen. Die Kanzlei hat sich aber auch einen Namen in großen Opferrechtsverfahren gemacht, bei der Flugschau-Katastrophe von Ramstein, dem Absturz der Concorde oder dem Amoklauf in Winnenden. Deshalb steht heute eine lange Reihe von Aktenordnern im Besprechungszimmer. "Loveparade" steht auf der Rückseite der Aktendeckel. Darunter ein Name. Jeder davon steht für ein Schicksal. Die Rechtsanwälte um den ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum vertreten 76 Geschädigte und Angehörige von Opfern der Duisburger Katastrophe.

In fünf Fällen betreut Rechtsanwalt Julius Reiter Hinterbliebene. Darunter die Eltern von zwei Gaststudentinnen aus Spanien und Angehörige einer jungen Frau aus China, die daheim ein Kind und ihre Eltern unterstützte. Begegnungen mit Eltern, die ihre Kinder verloren oder mit Besuchern, die das Sterben aus nächster Nähe mit ansehen mussten, gehen auch den erfahrenen Juristen unter die Haut.

Schon kurz nach der Katastrophe am 24. Juli 2010 gingen in der Kanzlei die ersten Anrufe ein. Zunächst seien es Journalisten gewesen, die Baum, Reiter & Collegen wegen ihrer Erfahrung bei Opfervertretungen konsultierten, berichtet Reiter, doch rasch hätten sich auch Betroffene an die Kanzlei gewandt.

Einer der ersten war Jürgen Hagemann (48) aus Duisburg-Rheinhausen. Seine damals 16-jährige Tochter hatte unter dem Menschenberg vor der Treppe gelegen, über die die Loveparade-Besucher zu flüchten versuchten. Sie und ihre drei Begleiter wurden zum Teil schwer verletzt. Das Mädchen litt Todesängste, sah andere Menschen aus nächster Nähe sterben. Überwunden hat es den Schock bis heute nicht. "Meine Tochter war zwei Monate lang in einer Therapie", berichtet Hagemann. "Aber auch wenn es schon besser geworden ist, wird sie das Trauma wohl nicht mehr los. Noch immer wird sie nachts von den schrecklichen Bildern heimgesucht."

Vielen Betroffenen, die nun von Reiter vertreten werden, ist es ähnlich ergangen. Erschütternd sind die Gedächtnisprotokolle, die hinter den Aktendeckeln der Kanzlei verborgen sind: "Wir lagen eingequetscht an der Mauer", steht in einem handschriftlichen Protokoll. "Ich sah meinen Freund vor mir, der bewusstlos war, und ich konnte nichts tun." Schließlich wird die junge Frau aus der Masse in den Tunnel gezogen. Dort sieht sie, wie einer ihrer Freunde versucht, einen Besucher zu reanimieren: "Nach ein paar Minuten gab er mir ein Zeichen, dass es für den Jungen keine Hoffnung mehr gab." Traumatisiert sind auch die Hinterbliebenen. "Der Vater eines der beiden ums Leben gekommenen spanischen Mädchen ist Anwalt", berichtet Reiter. "Wenn er bei uns anruft, merkt man, dass bei ihm jedes Mal eine Wunde aufgerissen wird."

Eine der Aufgaben der Anwälte ist es, den Schmerz in Zahlen umzurechnen. 20.000 Euro Soforthilfe haben die Hinterbliebenen aus einem Nothilfefonds des Landes bekommen, 500 Euro die Verletzten für jeden Tag, den sie im Krankenhaus verbringen mussten. Veranstalter Rainer Schaller und die Axa-Versicherung stellten zudem gemäß einer Vereinbarung mit der Stadt Duisburg Geld für Soforthilfe in besonderen Notfällen zur Verfügung. Die endgültige Regulierung der Schäden aber ist gerade erst angelaufen. Die Anwälte dürfen das Einlenken von Schallers Versicherung Axa und der Stadt Duisburg als Erfolg verbuchen. Nach deutschem Recht haftet in derartigen Fällen derjenige, der strafrechtlich schuldig ist. Doch ein Prozess, der die Schuldfrage klären könnte, ist nicht in Sicht. Die Betroffenen hätten daher vielleicht jahrelang auf ihr Geld warten müssen, hätte die Versicherung auf Druck der Anwälte und der Öffentlichkeit nicht erklärt, sie wolle die Schäden vorab unabhängig von der Schuldfrage regulieren.

Wolfgang Riotte, von der Landesregierung eingesetzter Ombudsmann der Geschädigten, hofft auf ein unbürokratisches Verhalten der Axa bei der Prüfung der Ansprüche: "Vermutlich wird die Versicherung lieber etwas höhere Summen zahlen als knausrig zu erscheinen." Allerdings sei noch immer unklar, wie das Verfahren ablaufen soll.

Auch Reiter kritisiert das Informationsverhalten des Versicherers. Ihm wäre am liebsten gewesen, die Entschädigung wäre über eine Stiftung gelaufen. Er verweist auf ungelöste Fragen. So sei keine genaue Zahl der Geschädigten bekannt. Viele Menschen werden jahrelang psychiatrische Hilfe benötigen und einige möglicherweise erst nach Jahren realisieren, wie sehr sie das Ereignis traumatisiert hat. Der Anwalt kennt Menschen, die durch die Loveparade-Katastrophe zu Frührentnern wurden. "Einige Fälle dürften gar nicht justiziabel sein", sagt Reiter. "Wie geht man etwa mit einem Besucher um, der auf Probe eingestellt war und seine Stelle nach dem Unglück verloren hat?"

Allerdings, betont der Anwalt, gehe es nicht nur ums Geld. "Die Leute wollen in erster Linie Gerechtigkeit. Sie wollen Sühne für die Opfer, sie wollen erfahren, wie es zu der Katastrophe kommen konnte, und sie wollen einen Beitrag dazu leisten, dass so etwas nicht wieder passiert." Vor allem aber sei ihnen daran gelegen, dass offene Fragen geklärt werden: "Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, einen Schlussstrich zu ziehen."

(RP)
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